Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
ein tellergroßes Auge an, blutrot im schwindenden Abendlicht.
Sie standen auf einem Gesicht, einem überraschend gut erhaltenen Mosaik, das einst wohl die Fläche des gesamten Raumes eingenommen hatte. Eine Kapelle, vermutete Aura.
»Ist sie das?«, fragte sie. »Die Virgen Bianca?«
»Höchstpersönlich.«
»Was ist das für ein Ort? Warum zeigen Sie ihn mir?« Ganz kurz war ihr, als hätte sie eine Bewegung bemerkt, drüben bei den Pferden. »Was soll das alles?«, fügte sie hinzu, um ihn abzulenken.
Aber er war viel zu versessen darauf, ihr ihre Unkenntnis vorzuführen, als dass er auf etwas anderes achten konnte. Sein Leben lang war er Nestors Schüler gewesen, selbst dann noch, als Nestor ihn zurückgelassen und längst vergessen hatte. Fuente hatte sich immer nur als Adepten gesehen. Nun aber, während dieser Reise, hatte er endlich Gelegenheit, selbst zum Lehrer zu werden – nicht zum Meister, dafür respektierte er den allgegenwärtigen Schatten ihres Vaters zu sehr –, und er gedachte, jeden Augenblick auszukosten.
»In diesem Kloster haben Tempelritter die Weiße Jungfrau verehrt«, sagte er. »Das war zu einer Zeit, als der Orden offiziell längst ausgelöscht war, im fünfzehnten Jahrhundert. Nach außen hin gaben sie und die anderen Splittergruppen sich neue Namen, doch in ihren Herzen waren sie Tempelritter wie ihre Ahnen und Urahnen. Sie müssen wissen, dass es nach den großen Massakern an den Templern im vierzehnten Jahrhundert eine Unzahl solcher Gruppen gab, versprengte Mitglieder des Ordens, die neue Getreue um sich scharten und sich selbst zu Großmeistern erklärten. Eine dieser Gruppen ließ sich hier nieder, doch hervorgegangen war sie zuvor aus einer anderen – dem Tempel der Schwarzen Isis.«
Aura nickte beflissen. Augenscheinlich erwartete er, dass sie einen Teil dieser Dinge bereits wusste.
»Der Tempel der Schwarzen Isis hatte unter den Nachfolgegruppen der ursprünglichen Tempelritter eine Sonderstellung inne«, sagte er. »In ihm hatten sich zwei Orden zusammengefunden und waren ineinander aufgegangen: die Templer auf der einen Seite und ein orientalischer Kult auf der anderen – die Assassinen, die Kriegersekte um den sagenumwobenen Alten vom Berge. Ich nehme an, von ihm und seinen Männern haben Sie bereits gehört.«
Diesmal stimmte sie zu, weil es der Wahrheit entsprach. »Im elften Jahrhundert zogen türkisch-mongolische Stämme in ein Gebiet zwischen Syrien und Persien«, sagte sie. »Sie hingen einer eigenen Glaubensrichtung an, dem Ismaelismus. Ihre Macht stützte sich auf eine Reihe von Festungen in den Bergen, und eine davon war die Burg von Alamut im Elburz-Gebirge. Um 1100 eroberte ein persischer Kriegsfürst die Festung und gründete dort die Sekte der Assassinen.«
»Der Mann war Hassan As Sabbah«, sagte Fuente mit zufriedenem Nicken. »Die Kreuzfahrer nannten ihn den Alten vom Berge. Die Assassinen verband bereits einiges mit den Templern, ehe beide aufeinander stießen. Beide verehrten das Haupt des Baphomet und folgten den Lehren des Hermes Trismegistos. Und beide verstanden sich sowohl als mystisch-religiöse wie auch als militärische Vereinigung.« Während er sprach, begann er, auf dem Mosaik der Weißen Jungfrau auf und ab zu gehen. »Schließlich mussten sich die Assassinen aus Alamut und Persien zurückziehen, und es heißt, dass einige Templer ihnen auf Mallorca Unterschlupf gewährten. Aus diesem Bündnis wurde der Tempel der Schwarzen Isis, denn es gab noch eine weitere Gemeinsamkeit: Die Assassinen verehrten die mythische Göttermutter Isis, so wie es üblich war in vielen Landern des Orients, während die Templer der Heiligen Muttergottes huldigten. Die Assassinen hatten eines der alten Isis-Standbilder aus schwarzem Stein mitgebracht, und die Templer akzeptierten sie als Abbild der Madonna. Über die Jahre verschmolzen beide zu einer einzigen Figur, die von Templern und Assassinen gleichermaßen angebetet wurde.«
»Die Schwarze Isis.« Abermals bemerkte Aura eine Bewegung bei den Pferden. Diesmal schaute sie nicht schnell genug weg, und Fuente bemerkte ihren Blick.
»Gibt es hier wilde Tiere?«, fragte sie geistesgegenwärtig.
»Was haben Sie denn gesehen?«
»Ich weiß nicht. Es war nicht groß. Vielleicht nur ein streunender Hund. Sie hatten nicht vor, hier zu übernachten, oder?«
Sie gab ihrer Stimme einen ängstlichen Tonfall, und er fiel prompt darauf herein.
Mit einem Lächeln, das sie beruhigen sollte, sagte er: »Keine
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