Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Segen. Sie ist eine Strafe. Auch wenn du glaubst, du hättest sie freiwillig gewählt – es ist nicht wahr. Das ist es für keinen von uns.«
    Sie musste an Gillian denken, daran, dass sie ihm ohne sein Wis-sen das Kraut verabreicht hatte. Und sie selbst? Was hatte sie anderes getan als Nestors Beispiel zu folgen? Sie hatte seine alchimistischen Forschungen fortgesetzt, ohne Erfolg. Dann war sie auf das Kraut gestoßen, das auf seinem Grab wuchs. Es war wie ein Teil von ihm. Es hatte sie gerufen, und sie war dem Ruf gefolgt. Wie hypnotisiert.
    Sei wie ich. Sei wie dein Vater.
    Sie hatte gehorcht. Die Unsterblichkeit. Der Lockruf der Legende. Jetzt war sie eins damit, eins mit dem Mythos.
    Konstantin wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich habe gesehen, was er getan hat… Und ich hab ihn nicht daran gehindert. Fuente war damals ein Junge, fast noch ein Kind. Ich habe geahnt, was aus ihm werden würde, irgendwann. Aber ich dachte, dass es früher enden würde.«
    »Was hattest du mit Nestor zu schaffen?« Er sah sie lange an. »Und du?«
    Sie wollte etwas erwidern, aber dann begriff sie, dass es falsch war. Er hatte Recht. Sie waren alle seiner Faszination erlegen. Er, sie, jeder, der mit Nestor in Berührung gekommen war. Sie hatte noch lange nach seinem Tod von dieser Faszination gezehrt. Das war sein wahres Erbe, nicht die Häuser, nicht der Reichtum. Fuente hatte das gewusst, er hatte sie durchschaut.
    Vielleicht ziehen Schuldige sich gegenseitig an.
    Sie reichte Konstantin die Hand. »Danke«, sagte sie. Er zögerte kurz, dann zog er sie an sich. Sie küsste ihn, lang und heftig. Irgendwie fand sie es unangebracht, irgendwie auch wieder nicht, und dann weigerte sie sich, länger darüber nachzudenken, tat es einfach und genoss es.
    Zwei Schuldige, in wabernde Glut getaucht.
    Als Konstantin sich von ihr löste, zeigte er nach Westen, auf die schwarzen Bergkuppen, hinter denen der Sonnenuntergang wie das Fanal der Hölle loderte.
    »Ich hätte es wissen müssen«, sagte er leise. »Die Sierra de la Virgen. Die Berge der Jungfrau.«

KAPITEL 19
    Als Tess das Gut in der Sierra de la Virgen zum ersten Mal sah, dachte sie, dass es hier enden würde.
    Hier fanden die Dinge also zusammen, im Guten wie im Schlechten.
    Und zum ersten Mal seit vielen Tagen erschien ihr wieder der Ritter. Sie sah ihn auf seinem Schlachtross den Hang hinab galoppieren, in Eisen und Leder gerüstet, und hinter sich, wie eine blutbefleckte Flagge, sein weißer Umhang mit dem roten Tatzenkreuz der Tempelritter.
    Die Vision verging, und ein rascher Blick auf den schlafenden Gian, der ihr in der Kutsche gegenüber saß, versicherte ihr, dass er nichts bemerkt hatte. Die Feststellung erfüllte sie mit Genugtuung. Zum ersten Mal hatte sie den Spieß umgedreht. Sie hatte seine Nähe genutzt, um in Verbindung mit der Vergangenheit zu treten, ohne dass er da-von wusste.
    Der Ritter mit dem roten Tatzenkreuz. Sie wusste jetzt, dass es Nestor war, ihr Großvater. Bereits in der persischen Wüste war er ihr erschienen. Sie hatte geglaubt, er sei nur ein Traumgespinst, das es gut mit ihr meine, doch das war ein Fehler gewesen. Gians nächtliche Besuche und die Umgebung hatten die Bilder heraufbeschworen. Auch Nestor war einst durch diese Wüste geritten, vor vielen hundert Jahren, und so wie sie ihn dort gesehen hatte, sah sie ihn auch jetzt.
    Nestor war hier in der Sierra gewesen. Er hatte diesen See gesehen und das uralte Anwesen am Ende der Landzunge, die sich einen halben Kilometer weit auf das Wasser hinaus schob. Vermutlich hatte er sogar den Wein gekostet, der an den Hängen dieser Berge gewachsen war, schon damals, vor Jahrhunderten.
    Graf Cristóbal hatte ihnen die Namen der Rebsorten aufgezählt wie eine Reihe von Heiligen, auf deren Schultern das Schicksal der Region ruhte. Die Roten: Garnacha, Mazuela, Tempranillo und Monastrell. Die Weißen: Macabeo, Malvasia und Moscatel Blanco. Sie hätte keinen dieser Namen aufschreiben können, aber der Klang war ihr im Gedächtnis geblieben, wie vieles von dem, was der Graf gesagt hat-te.
    Cristóbal war ein Weinkenner, das war alles, was sie über ihn wusste. Im Augenblick saß er in der zweiten Kutsche, die hinter ihrer fuhr; freilich hatte seine keine vergitterten Fenster, und der Einstieg war nicht mit einem Vorhängeschloss gesichert.
    In Soria, im Hof des Waisenhauses, hatte sie die beiden Kutscher sehen können, alte, verhärmte Männer, von denen sie annahm, dass sie einst als Bauern in

Weitere Kostenlose Bücher