Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
geduldig, immer aufgeschlossen, hatte sie das für Selbstlosigkeit gehalten. Jetzt wusste sie es besser.
»Wie bist du auf mich gekommen?«, fragte sie. Die Antwort interessierte sie nur noch am Rande, aber sie wollte nicht, dass er länger von Gian sprach, als wären er und der Junge die engsten Freunde, vertrauter als sie selbst und ihr Sohn jemals gewesen waren. Dabei wusste sie genau, was Cristóbal getan hatte. Gian hatte ihm geglaubt, so wie sie selbst Philippe geglaubt hatte. Er hatte ein Talent, die Freundschaft anderer zu gewinnen, das über einfaches Geschick hinausging. Noch bis vor wenigen Tagen, ja, Stunden hätte sie beteuert, dass Philippe ihr ältester und bester Freund war. Jemand, der sie niemals verraten würde, um keinen Preis der Welt.
Aber warum erstaunte sie seine Wandlung dann so wenig? Warum war sie nicht tiefer berührt davon, härter getroffen?
Du hast es geahnt. Irgendwie, ganz tief drinnen, hast du es immer geahnt. Du hast dich einem anderen Menschen anvertraut, hast dich ihm ausgeliefert – aber das Wissen, das du besitzt, ist viel mehr, als andere ertragen können. So stabil ist keine Freundschaft, keine Bin-dung. Keine Liebe.
»Wie ich auf dich gekommen bin?« Cristóbal deutete mit einer Handbewegung über die Bücherreihen in den Regalen. »Es gibt Berichte, die weit zurück ins Mittelalter reichen. Aufzeichnungen der Katharer, die diesen Ort gegründet haben, nachdem man sie auf Montségur geschlagen hatte. Darin ist auch vom Gral die Rede. Und von dem Ritter, der eines Tages hier war und den Kelch mit eigenen Augen sehen durfte.«
»Nestor?«
»Nestor Nepomuk Institoris, ein Ausgestoßener des Templerordens. Ein Mann, von dem man sich erzählte, dass er allein durch die Welt ritt, unfähig, sich zu binden, weil alle ihm das eine neideten – die Unsterblichkeit.«
Sie hob eine Augenbraue. Gegen ihren Willen drohte sie der Verlockung seiner Geschichte zu erliegen. Aber war das nicht schon immer ihr Problem gewesen? »Die Katharer wussten, dass mein Vater unsterblich war?«
»Und nicht nur sie. Wie es aussieht, eilte ihm sein Ruf voraus. Die Katharer glaubten, dass er von Gott berührt war, und sie gestatteten ihm, einen Blick auf den Gral zu werfen.«
»Wenn du all das weißt, wie kommt es dann, dass du das Versteck des Grals nicht kennst?«
Seine Blick verdüsterte sich. »Die Katharer haben den genauen Ort niemals schriftlich festgehalten. Sie hatten erlebt, was auf Montségur passiert war, und sie wollten nicht, dass der Gral noch einmal in Gefahr geriet, in die Hände ihrer Feinde zu fallen.«
»Und da vertrauten sie ausgerechnet Nestor?«
»Ja. Und wie du dir denken kannst, war das ein Fehler. Die Aufzeichnungen brechen ab, nachdem die Katharer den Entschluss gefasst hatten, ihn in alles einzuweihen.«
»Was hat er getan?«
»Ich weiß es nicht.« Cristóbal ließ sich müde auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch sinken. »Bekannt ist nur, dass die Katharer etwa zu dieser Zeit aus der Sierra verschwanden. Die einen sagen, die Kirche hätte sie aufgestöbert und vernichtet. Andere behaupten, der Bund sei zerfallen und hätte sich einfach aufgelöst.«
»Und Nestor war der Anlass dafür?«
»Wer weiß? Sicher ist nur, dass sich sein Erscheinen und das En-de der Katharersiedlung in der Sierra de la Virgen überschneiden. Dein Vater ist hier aufgetaucht, und plötzlich sind die Katherer wie vom Erdboden verschwunden.«
»Was ist mit dem Tempel der Schwarzen Isis? Deine eigenen Leu-te haben dieses Land irgendwann in Besitz genommen. Waren sie es nicht, die die Katharer vertrieben haben?«
Er schüttelte den Kopf. »Die Katharer wurden 1244 auf Montségur besiegt. Nur eine Hand voll entkam und ließ sich hier nieder. Zu die-sem Zeitpunkt war Nestor bereits ein Ausgestoßener des Templerordens, aber der Orden selbst stand noch immer in voller Blüte. Er wurde erst 1312 endgültig zerschlagen. Ehe sich die Splittergruppen der Templer soweit reformiert hatten, dass sie bereit waren, neue Klöster zu gründen, vergingen weitere Jahrzehnte. Meine Vorfahren, die Gründer des Tempels der Schwarzen Isis, kamen nicht vor 1370 in die Sierra, fast hundertdreißig Jahre nach dem Fall Montségurs. Die Katharer aber haben hier nicht einmal sechzig Jahre gelebt, bis 1301, als Nestor hier aufgetaucht ist. Zwischen ihrem Verschwinden und der Verlegung des Tempels in die Sierra liegen also nahezu siebzig Jahre.«
»Das bedeutet, der Gral wurde zuletzt 1301 gesehen? Vor über
Weitere Kostenlose Bücher