Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
sechshundert Jahren?« Sie starrte ihn an. »Und du glaubst allen Ernstes, ihn heute hier noch wiederzufinden?«
»Ich wüsste nicht, was dagegen spricht. Es gibt keine Dokumente, die belegen, dass er jemals von hier fortgebracht wurde.«
Sie warf einen hilflosen Blick auf Konstantin, doch der hatte nur Augen für Cristóbal, kalt und hasserfüllt. Rasch wandte sie sich wieder an den Grafen. »Du hast selbst gesagt, dass die Aufzeichnungen der Katharer mit Nestors Erscheinen enden. Offenbar sind sie von hier fortgegangen. Du kannst doch nicht wirklich annehmen, dass sie den Gral einfach zurückgelassen haben.«
Cristóbal schüttelte den Kopf, wie ein Lehrer über einen Schüler, der partout eine mathematische Gleichung nicht begreifen will. »Ich habe gesagt, es wird behauptet, dass die Katharer freiwillig fortgingen. Ich habe nicht gesagt, dass ich selbst daran glaube. Ganz im Gegenteil. Ich denke, sie wurden ermordet – nicht von der Kirche.«
Sie lachte. »Etwa von Nestor?«
»Ja«, sagte er ruhig. »Ich denke, dein Vater hat die Katharer ausgelöscht. Er hat jeden getötet, der ihm hier vor die Klinge gekommen ist. Viele waren es ohnehin nicht mehr, die das Massaker von Montségur überlebt hatten. Ein Dutzend, vielleicht, nicht mehr.«
»Aber dann hätte er den Gral mitgenommen! Ein Grund mehr, dass du ihn hier nicht mehr finden wirst.«
Er lehnte sich mit einem Seufzer zurück. »Das werden wir sehen. Ehrlich gesagt, denke ich nicht, dass Nestor den Gral von hier fortgeschafft hat. Was hätte er damit tun sollen? Der Templerorden und die Kirche hatten ihn exkommuniziert. Überall drohte ihm der Scheiterhaufen. Wohin hätte er sich mit dem Gral wenden sollen? Nein, Aura… Ich glaube, er hat ihn dort gelassen, wo er ihn gefunden hat, in der Gewissheit, dass niemand ihn entdecken würde. Vor allem nicht seine Feinde, der Papst und der Templerorden. Was für ein Triumph muss das für ihn gewesen sein!«
Möglicherweise hatte er Recht. Was er sagte, entsprach durchaus dem Charakter ihres Vaters, soweit sie selbst sich ein Urteil darüber erlauben konnte. Sie hatte Nestor nicht gut gekannt, und noch viel weniger konnte sie einschätzen, wie er vor sechshundert Jahren gewesen sein mochte.
Sie schaute erneut zu Konstantin hinüber. Diesmal erwiderte er ihren Blick und nickte unmerklich. Wusste er etwas, das Cristóbal verborgen geblieben war? Mit ein wenig Glück würde man sie zusammen einsperren, sodass sie ihn fragen konnte.
Cristóbal erhob sich wieder und stemmte sich mit beiden Händen auf die Schreibtischkante. »Trotz allem, Aura – ich bin froh, dass du gekommen bist.«
Sie lächelte kalt. »Ich weiß, was du vorhast.«
»So?«
»Ich glaube nicht, dass Gian wirklich auf deiner Seite ist. Du hast mich herbestellt, um ihm mit meinem Tod zu drohen. Und das wäre unnötig, wenn er ohnehin tut, was du von ihm verlangst.«
Der Graf zögerte einen Augenblick, sichtlich erstaunt, dann schüttelte er lachend den Kopf. »Glaubst du das wirklich? Dass ich dich töten will?«
Konstantin mischte sich ein. »Hören Sie auf! Es ist genug!«
Cristóbal suchte Auras Blick. »Aber das ist nicht wahr! Ich habe nie vorgehabt, dir ein Haar zu krümmen.« Mit einem merklich kühleren Seitenblick auf Konstantin fügte er hinzu: »Das gilt für Aura, nicht für Sie. Also halten Sie sich ein wenig zurück, werter Chevalier. Ihr Ton-fall ist, gelinde gesagt, eine Zumutung.«
Einen Moment lang blitzte wieder der alte Philippe auf, wie Aura ihn in Paris kennen gelernt hatte. Die ironische Karikatur eines Aristokraten alter Schule, ein kluger Mann mit einem ausgeprägten Sinn für feine Wortspitzen. Doch diese frühere Subtilität hatte Schaden genommen, die Plumpheit der Umgebung hatte bereits auf ihn abgefärbt.
»Im Grunde genommen war es nicht mein Wunsch, dich hierher zu locken«, sagte er. »Da es aber nun einmal unausweichlich erschien, wurde mir bewusst, dass die Aufforderung eine gewisse Dramatik verlangte. Deshalb diese geschmacklose Fotografie. Was für eine Schmierenkomödie!« Abermals stieß er einen Seufzer aus. »Hätte ich gewusst, dass die Dinge derart aus dem Ruder laufen, hätte ich mich nicht darauf eingelassen, das kannst du mir glauben.«
Er wandte sich um und trat ans Fenster. Das Glas war milchig und von Bleiornamenten durchzogen, die ein groteskes Schattenmuster auf seine Züge warfen. Es sah aus, als hätte sein Gesicht Risse bekommen wie ein brüchig gewordenes Ölporträt.
»Dass du
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