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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Katharer, und nach ihm alle, die sich ihm in den Weg stellten. Nestor hatte kein Interesse an dem magischen Wort, ja, die Angst davor war ihm bis in die Knochen gefahren, und so hielt er seinen Blick abgewandt, als er den Gral mit beiden Händen hochhob und ihn dann, in einer einzigen, kraftvollen Bewegung, auf dem Boden zerschmetterte. Das uralte Tongefäß zerbarst in Staub und winzige Splitter, und Nestor zertrat die Reste unter seinen Soh-len, bis nichts übrig war als feinkörniger Sand und der Stiel aus Gold. Innerhalb von Sekunden war eine der größten Reliquien der Christenheit zerstört, zermalmt unter den eisernen Kappen von Nestors Stiefeln. Er genoss das Bersten und Knirschen, bis sich der Staub mit dem Blut der erschlagenen Katharer vermischte.
    »Nein!«
    Gians Aufschrei riss Tess abrupt aus ihrer Trance. Wie ein Tau-cher, der zu schnell zur Wasseroberfläche aufsteigt, stieß sie aus diffuser Versunkenheit in die Wirklichkeit empor, und für mehrere Sekunden brach die Umgebung mit brutaler Gewalt über sie herein. Ihre überempfindlichen Sinne empfingen Licht und Laute mit einer schmerzhaften Intensität, und eine Weile lang war sie vollkommen desorientiert. Dann aber klärte sich ihre Benommenheit, und schlagartig erkannte sie die Kammer, in die Cristóbal sie und Gian gesperrt hatte. Sie streckte die Hände aus, strich mit den Fingerspitzen über den Leinenbezug ihrer Pritsche, atmete tief durch und versuchte, den sauren Geschmack in ihrem Mund zu ignorieren.
    »Nein«, sagte Gian noch einmal. »Das kann er nicht getan haben!« Seine Stimme klang atemlos, nicht von der überstürzten Rückkehr ins Hier und Jetzt, sondern aus Fassungslosigkeit. Tiefer, verstörter Fassungslosigkeit.
    »Gian…«, begann Tess.
    »Er kann doch nicht…« Gian brach kopfschüttelnd ab, fasste sich und stammelte wie ein Kind. »Er kann nicht den Gral zerstört haben. Nicht einmal er war so arrogant …«
    »O doch«, sagte sie. »Du hast es gesehen. Wir haben es beide gesehen.« Sie war bemüht, jeglichen Beiklang von Freude aus ihrer Stimme herauszuhalten, obwohl sie innerlich triumphierte. Der Gral war zerstört, seit über sechshundert Jahren.
    Cristóbals Pläne und Bemühungen waren nichts als ein grausamer Scherz. Das aber bedeutete auch, dass die Menschen in Uruk umsonst gestorben waren, genauso wie der Junge, den sie selbst auf dem Gewissen hatte. Bei diesem Gedanken kamen ihr schließlich doch noch die Tränen.
    Es dauerte einen Moment, dann setzte sich Gian neben sie auf die Pritsche, legte erst zögernd, dann fester einen Arm um sie, und sie weinten gemeinsam und trösteten einander, wie sie es früher getan hatten, bevor Cristóbal mit seinen finsteren Lockungen zwischen sie getreten war.
    Als sie aufblickte und ihn ansah, erkannte sie, dass auch ihm die Tragweite der Ereignisse bewusst war. Das ganze Ausmaß seiner Fehler.
    »Wir dürfen Cristóbal nichts davon erzählen«, sagte sie und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen. »Wenn wir keinen Wert mehr für ihn haben…«
    Gian machte keinen Versuch, ihr zu widersprechen. »Er würde uns ohnehin nicht glauben«.
    »Und das bedeutet?« Sie kannte die Antwort, aber sie wollte sie von ihm selbst hören.
    Er sah sie an, und in seinen Augen brannten Scham und Verzweiflung wie dunkles Feuer. »Wir müssen von hier verschwinden. Wir könnten ihn vielleicht noch eine Weile hinhalten, aber irgendwann wird er die Geduld verlieren.«
    Es war alles so unendlich kompliziert. Sie wusste nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Gian war niemand, dem es leicht fiel, sich zu entschuldigen. Und welche Entschuldigung hätte das Leid aufwiegen können, das er verursacht hatte?
    Gewiss, nicht er hatte die Goldsteins und ihre Arbeiter getötet, und sie war ziemlich sicher, dass Cristóbal sie beide auch dann entführt hätte, wenn Gian nicht zu einer Zusammenarbeit bereit gewesen wäre. Dennoch blieb die Gewissheit, dass er die Toten gebilligt hatte. Nicht verursacht, sicher auch nicht gewollt – aber gebilligt. Sie war nicht sicher, ob sie ihm das jemals würde verzeihen können.
    Sie streifte seinen Arm ab, nicht sanft, aber auch nicht so abrupt, dass es nach einer harschen Zurückweisung aussah. Sie stand auf und trat an die schmale Schießscharte, die dem Raum als Fenster diente. Über dem See flirrte die Luft in der Nachmittagshitze und verwischte die Aussicht wie ein impressionistisches Landschaftsgemälde.
    »Wir müssen fliehen«, flüsterte

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