Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
ernst, und ihr Geist zog sich in sich selbst zurück, schlug die Tür zu vor ihren wahren Gefühlen. Ein uralter Schutzmechanismus zur Bewahrung ihrer Erhabenheit.
Tess musterte Innana mit unverhohlenem Argwohn. Aura fragte sich, ob sie und Gian wussten, wer die Fremde war. Ein Blick auf ihren Sohn vertiefte das Rätsel: Er wirkte weniger misstrauisch als fasziniert. Rein äußerlich war Innana kaum älter als er selbst, und sie war unzweifelhaft eine Schönheit. Aber war das der einzige Grund? Auras Unbehagen blieb. Gian verbarg etwas, und sie war nicht si-cher, ob sie wirklich wissen wollte, was es war.
Sie wollten gerade aufbrechen, als vor der Tür Schritte zu hören waren; jemand rief etwas auf Spanisch.
Cristóbal stieß den Eingang auf. Die Pistole in seiner Hand war ein Affront gegen den Ehrenkodex der Templer, doch für ihn spielte das keine Rolle mehr.
Er war nicht einmal überrascht, sie alle hier zu finden. Hinter ihm auf dem dunklen Gang zählte Aura mindestens drei Templerassassinen, vielleicht auch mehr.
Sie schob sich schützend vor Gian und Tess, aber ihr Sohn umrundete sie mit einem Schritt und trat ungeachtet der Pistolenmündung auf Cristóbal zu. Ihre Blicke begegneten sich.
»Lassen Sie sie gehen«, sagte Gian. Aura war erstaunt, wie gefasst und ruhig er klang. Er war kein Kind mehr – es wurde Zeit, das endlich zu akzeptieren.
»Warum sollte ich das tun?«, fragte der Graf. Sein Gesicht zuckte unmerklich, und Aura dachte, dass etwas vorgefallen war. Etwas, das ihn zutiefst beunruhigte.
»Ich weiß jetzt, was mit dem Gral passiert ist«, sagte Gian.
Tess verzog das Gesicht. »Gian!«
Er schaute kurz über die Schulter zu ihr zurück, aber seine Miene verriet nichts von dem, was in ihm vorging. Dann sagte er zu Cristóbal: »Ich zeige Ihnen das Versteck.«
Aura ahnte, was er vorhatte, und sie würde es nicht zulassen. Sie machte einen Schritt nach vorn, aber sofort zuckte der Pistolenlauf in ihre Richtung und ließ sie verharren.
»Nicht«, sagte Cristóbal gefährlich leise. »Wir müssen diese Sache endlich zu Ende bringen.«
»Was ist passiert?«, fragte Aura. »Warum diese plötzliche Eile?«
Einen Augenblick lang sah Cristóbal aus, als wollte er ihr tatsächlich die Wahrheit sagen, aber dann verzichtete er auf eine Antwort und wandte sich wieder an Gian. »Du weißt, wo der Gral versteckt ist?« Gian nickte. »Wo?«
»Ich werde Sie hinführen.« Gian holte tief Luft. »Aber erst lassen Sie Tess und meine Mutter gehen. Geben Sie ihnen Pferde, damit sie nach Soria oder Zaragoza reiten können.«
Cristóbal überlegte, dann schüttelte er den Kopf. »Ich denke nicht, dass ich das tun werde.« Er winkte die Assassinen herein.
»Das Mädchen«, sagte er und zeigte auf Tess.
Aura wollte sich auf ihn werfen, doch einer der Assassinen war schneller. Eine Schwertspitze drang durch ihre Kleidung und ritzte ihre Haut. Aura achtete nicht darauf.
»Was soll das, Philippe?«
»Ich habe dir gesagt, dass Philippe nicht mein richtiger Name ist.«
»Wie soll ich dich dann nennen? Großmeister?«, fragte sie spöttisch. »Oder Alter vom Berge?«
Innana hatte die ganze Zeit über reglos im Hintergrund gestanden. Jetzt aber wandte sie sich auf Spanisch an Cristóbal. Er schüttelte nur den Kopf, beachtete sie nicht weiter und deutete abermals auf Tess.
Zwei Assassinen traten vor und packten das Mädchen an den Ar-men, zerrten es grob Richtung Tür. Tess wehrte sich nicht, aber der Anblick versetzte Aura in eine solche Wut, dass sie Cristóbal mit bloßen Händen hätte umbringen können. Nur die Schwertspitze, die unverändert auf sie zeigte, war im Weg.
»Gian«, sagte Cristóbal, »ich muss dein Angebot leider ausschlagen. Aber ich denke, du wirst mir auch so helfen.
Nicht wahr?«
Einer der Assassinen zog einen gekrümmten Dolch und hielt ihn unter Tess’ Kinn. Sie keuchte leise, sagte aber nichts.
Gian senkte niedergeschlagen den Kopf, dann nickte er einmal kurz.
»Gut«, sagte Cristóbal. »Dann wären wir uns einig. Du bist an der Reihe. Wohin soll’s gehen?«
Gian atmete tief durch und wechselte einen blitzschnellen Blick mit Tess. »Auf den See«, sagte er. »Zur Insel.«
Das Motorboot schob sich behäbig durch das ruhige Wasser. Die Hitze des späten Nachmittags schien wie eine flache Scheibe aus Glas auf dem See zu liegen. Es gab keine Wellen außer jenen, die der Rumpf des Bootes verursachte. Das Flimmern der Luft war so intensiv geworden, dass die Insel vor Auras
Weitere Kostenlose Bücher