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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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noch gar keine Rede war. Die Männer, die ihn begrüßten, wirkten ausgezehrt nach all den Jahren, die sie sich hier in der Sierra vor ihren Feinden versteckt hatten.
    Jetzt, nachdem sie den richtigen Strang ihres Gedankenerbes gefunden hatten, begannen Tess und Gian in Nestors Erinnerungen zu blättern wie in einem Buch. Sie konnten auf bestimmten Bildern und Ereignissen verweilen, andere überschlagen, kurz anreißen oder völlig außer Acht lassen. Nur gemeinsam verfügten sie über diese Macht, und sie kannten keinen sonst, der sie besaß, denn sie waren geboren aus den Verbindungen von Alchimisten und alchimistischen Geschöpfen, eine wundersame Fügung von Erbgut, Talent und Zufall, einem Vorgang, ähnlich der legendären Chymischen Hochzeit, von der Alchimisten, Philosophen und Fantasten seit Jahrhunderten träumten.
    Manches Mal, vor den Ereignissen, die in Uruk ihren blutigen An-fang genommen hatten, hatten sie sich gefragt, welche Tore sie noch aufstoßen würden, welche Kräfte noch in ihnen schlummerten. Es waren einfache, kindliche Fragen, die sie sich gestellt hatten, niemals überheblich oder von sich selbst eingenommen. Ihr Talent war eine Tatsache, und wer vermochte zu sagen, ob da nicht noch weitere waren, verwandte Begabungen oder auch vollkommen neue? Die Zahl der Möglichkeiten schien unendlich.
    Zeit verging im Leben des Ritters. Vielleicht Tage, vielleicht Wochen. Dann entschieden die Männer, die sich in dem Haus vor der Außenwelt verschanzt hatten, ihn in ihr größtes Geheimnis einzuweihen. Sie führten ihn in einen Raum ohne Fenster, und dort stand auf einem hohen Sockel eine halbrunde Schale aus Ton. Das primitive Gefäß war nachträglich auf einem Stiel aus Gold befestigt worden, was dem Ganzen die Form eines Kelches verlieh.
    Warum die Katharer sich zu einem solchen Zugeständnis an den Ritter hinreißen ließen? Weshalb sie gerade zu ihm Vertrauen fassten? Sie dachten wohl, dass sie es freiwillig taten, guten Glaubens und Gewissens, doch die Wahrheit war eine andere. Während seines Aufenthalts hatte Nestor manipuliert und bestochen, gedroht und geschmeichelt. Er hatte sich das Vertrauen der Katharer erschlichen, aber er war auch der Herr ihrer Ängste. Er wusste sie geschickt gegeneinander auszuspielen, ein Meister der Intrige, der sich skrupellos des Konflikts zwischen Ketzern und Kirche bediente.
    Und nun, endlich, war er am Ziel.
    Einer der Männer, gekleidet in ein zerschlissenes Gewand, hielt ei-ne weihevolle Rede.
    Aber es war Gians Stimme, die in Tess’ Gedanken drang. »Der Heilige Gral«, sagte er andächtig.
    Tess schwieg und beobachtete weiter. Während die Erinnerungen sie heimsuchten, war es möglich, miteinander und auch mit anderen zu sprechen, doch sie zog es vor, still zu bleiben. Abzuwarten.
    Der genaue Wortlaut der Rede war in Nestors Erinnerungen verschollen, aber der Inhalt hatte sich fest verankert. Vom Gral sprach das Oberhaupt der Katharer, von den langen Wegen, die er genom-men hatte, ehe man ihn erst auf die Festung von Montségur und dann hierher gebracht hatte. Und er sprach von einem Wort, das vor langer Zeit in den Boden der Schale graviert worden war, von einem Mönch, dem es gelungen war, den Gral zurückzugewinnen, nachdem Nordmänner ihn aus einem angelsächsischen Kloster geraubt hatten.
    Tess verstand wenig von all diesen Verwicklungen; es waren zu viele, um sie alle im Kopf zu behalten. Fest stand, dass das gravierte Wort Macht besaß – eine Macht, die Welt zu vernichten und neu zu erschaffen. Der Legende zufolge musste man es laut aussprechen, was wohl nicht einmal der Mönch gewagt hatte, der es auf dem Bo-den des Grals verewigt hatte.
    Wie er selbst an das geheime Wort gelangt war? Wer es vor ihm aufgeschrieben hatte? Niemand wusste darauf eine Antwort, nicht einmal die Gründer der Katharer, die den Gral in den Wirren der Kreuzzüge erbeutet und in Sicherheit gebracht hatten.
    Nun also stand der Ritter vor dem Gral.
    Nestor war gewiss niemand, dem etwas am Wohl der Menschheit lag. Er sah nur seinen eigenen Vorteil, in dieser Sache wie auch in allen anderen, und er wusste sogleich, was zu tun war. Er zahlte für seine Unsterblichkeit einen hohen Preis, hatte dafür das Blut junger Mädchen vergossen, und er war nicht bereit, das alles aufs Spiel zu setzen, indem er einer Horde religiöser Fanatiker den Schlüssel zum Untergang der Welt überließ.
    Ehe irgendwer ihn aufhalten konnte, zog er sein Schwert und erschlug den Anführer der

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