Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Augen vibrierte wie ein großes Stück Treibholz.
Mückenschwärme umkreisten die sechs Menschen an Bord des Bootes, und Aura, deren Hände man gefesselt hatte, litt am stärksten darunter. Immer wieder ließen sich Insekten auf ihren Armen oder Wangen nieder. Der Assassine, der mit gezogenem Krummschwert hinter ihr stand, ließ nicht zu, dass Tess oder Gian sich ihr näherten, um die Mücken zu verjagen. Aura fragte sich, wie die jungen Männer es in dieser Hitze in der schwarzen Kleidung aushielten. Die beiden Krieger, die sie begleiteten, hatten nicht einmal die dunklen Tücher vor ihren Gesichtern gelockert. Durch die Augenschlitze erkannte Aura, dass beide stark schwitzten; sie konnte sich vorstellen, wie stark sich die gestaute Wärme unter ihren Kleidern auf ihre Kampfkraft auswirken mochte.
Innana war mit zwei weiteren Assassinen am Ufer zurückgeblieben. Noch einmal hatte sie versucht, auf Cristóbal einzureden. Doch der Alte vom Berge, der Großmeister des Tempels der Schwarzen Isis, hatte endgültig allen Respekt verloren. Die Tatsache, dass Innana Aura zu den Kindern geführt hatte, war vermutlich nur der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Er behandelte die Unsterbliche nicht wie eine Gefangene, aber es war klar, dass sie ihren Einfluss auf ihn verloren hatte.
Mit Aura auf dem Boot befanden sich Tess und Gian, die beiden Assassinen und Cristóbal, der persönlich am Steuer stand. Cristóbals Nervosität ließ sich an der Art ablesen, wie er jeden Dialog mit seinen Gefangenen verweigerte, auch an den impulsiven, abgehackten Bewegungen, mit denen er die Mücken vertrieb.
Aura überlegte angestrengt. Gians Finte verschaffte ihnen Zeit, aber sie wusste nicht, wie sie daraus einen Vorteil ziehen konnten. Nachdenklich betrachtete sie das Ruderboot, das am Heck mit einem Seil befestigt war. Es tanzte schwankend auf den Wogen, die das Motorboot auf seinem Weg zurückließ. Wenn sie ein Ruderboot benötigten, um das letzte Stück zum Ufer oder zur Insel zu bewältigen, war der See vermutlich längst nicht so tief, wie sie bisher angenommen hatte. Das erklärte auch, warum der Steg am Ende der Landzunge so weit auf das Wasser hinausragte.
Sie hatten jetzt mehr als die Hälfte der Strecke bis zur Insel zurückgelegt. Cristóbal hatte dort sicher schon früher nach dem Gral gesucht. Als Gian behauptet hatte, der Kelch wäre auf der Insel versteckt, hatte dies noch keinen sichtbaren Argwohn bei ihm geweckt. Möglicherweise hatte er schon lange etwas Derartiges vermutet, eine geheime Grotte vielleicht, deren Zugang übersehen worden war, oder ein viel kleineres Versteck, das die Katharer in den Fels gehauen hatten.
Cristóbal hatte darauf verzichtet, Gian und Tess zu fesseln. Die beiden Assassinen waren ganz auf Auras Bewachung konzentriert. Mit ihren gebundenen Händen konnte sie niemandem gefährlich werden. Dennoch schien Cristóbal ihr zu misstrauen.
Mit Recht, dachte sie und fasste unvermittelt einen Entschluss.
Abrupt erhob sie sich von der Bank, auf die man sie beim Ablegen platziert hatte. Sofort sprangen die beiden Wächter vor und packten sie, jeder an einem Oberarm, um sie wieder auf den Sitz zu drücken. Doch Aura hatte etwas anderes im Sinn.
In einem Augenblick, den ihr erschöpfter Geist zu einer endlosen Minute zerdehnte, sah sie, wie Cristóbal über die Schulter nach hinten blickte. Seine Augen weiteten sich, sein Mund klappte auf- dann war es zu spät.
Aura riss die beiden Assassinen rückwärts mit sich über die niedrige Reling. Sie sah noch einen silbernen Blitz über sich hinwegzucken – die Klinge eines Assassinen, die ihm aus der Hand gewirbelt wurde –, dann nahm das Wasser sie auf und verschluckte sie.
Gian sah seine Mutter mit den beiden Assassinen ins Wasser stürzen, erinnerte sich an ihre gefesselten Hände und wusste im selben Augenblick, dass sie ertrinken würde. Das Boot raste weiter, bevor der Graf reagieren konnte – zehn Meter, zwanzig Meter –, und Gian erkannte, dass ihm keine Zeit zum Nachdenken blieb.
»Gian!«, hörte er Tess noch brüllen.
Dann federte er mit einem Kopfsprung über die Reling und tauchte unter.
Tess stürzte vor, aber Cristóbal beschleunigte, und plötzlich hatte das Boot zu viel Tempo, als dass sie den anderen mit einem Sprung ins Wasser hätte folgen können – das Risiko, vom Sog erfasst und in die Schraube gezerrt zu werden, war zu groß.
Voller Angst blickte sie zurück, sah Gian durchs braune Wasser
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