Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
vielleicht weil er sie irritierte und das in Frage stellen ließ, was sie über sich und ihre sexuellen Vorlieben zu wissen glaubten. Frauen hingegen fühlten sich zu ihm hingezogen, häufiger und offener, als ihm recht war. Aura war die Einzige, in die er sich je verliebt hatte. Aura, die in ihrer Liebe zu ihm einen Schritt zu weit gegangen war.
Ihr hatte er es zu verdanken, dass sein Körper seit seinem siebenunddreißigsten Jahr nicht mehr alterte. Er war jetzt wie sie. Ein weiterer Erbe des Gilgamesch-Krauts.
Unten im Tal schlug eine Glocke.
Er staunte über seine eigene Ruhe. Es war klar, was das Signal zu bedeuten hatte. Das Zeichen, das er mit Bruder Giacomo vereinbart hatte. Mit Lascari ging es zu Ende.
Rasch machte er sich an den Abstieg zum Kloster. Er hatte drei Stunden gebraucht, um heraufzusteigen. Der Weg nach unten würde fast genauso lange dauern.
Siebenhundert Stufen und einen steinigen Hang lief er hinab bis zu einem Plateau, umringt von rauen Felskuppen. Die Mönche nannten diesen Ort das Amphitheater der Siebzig Weisen Israels; hier waren der Legende nach Moses’ Begleiter zurückgeblieben, während er seinen Weg allein fortgesetzt hatte und auf dem Gipfel seinem Gott begegnet war.
An einer Quelle hielt Gillian an und wusch sich Gesicht und Hände, dann eilte er weiter. Vorbei an einer kargen Einsiedelei, durch den Schatten eines Olivenbaums und großer Zypressen, bis zur obersten der dreitausend Treppenstufen, die von hier aus hinab zum Katharinenkloster führten.
Die einzelnen Absätze waren vor so langer Zeit aus dem Granit gehauen worden, dass ihre Kanten längst gesprungen, ihre Ecken abgeschliffen waren. Es war nicht leicht, das Gleichgewicht zu behalten, und Gillian musste Acht geben, dass ihn die Sorge um Lascari nicht leichtsinnig werden ließ. Seit Monaten hatten sie alle diesen Tag erwartet, angstvoll, aber auch froh, weil Lascaris Leiden damit ein Ende haben würden. Während der letzten zwei Wochen hatte Gillian die Kammer des sterbenden Großmeisters kaum mehr verlassen. Es waren Giacomo und Karisma gewesen, die ihn heute Morgen überredet hatten, sich einen Tag Ruhe zu gönnen. Doch statt sich in seine Kammer zu begeben und zu schlafen, hatte er es vorgezogen, den Djebel Musa zu ersteigen und für die Reinigung seines Geistes durch die Sonne und den Wind zu beten. Das war nötig nach all den Tagen und Nächten am Bett des Sterbenden, nach all dem Schmerz und dem Elend aus allernächster Nähe.
Nach einem Drittel der Strecke führte die Treppe durch einen steinernen Bogen, gerade breit genug, dass ein Mann allein hindurchtreten konnte. Hier, eingepfercht zwischen engen Granitwänden, hatte einst der heilige Stephanos die Pilger erwartet und ihnen ihre Sünden vergeben.
Gillian atmete schneller, als er endlich um die letzte Felskehre kam und das Katharinenkloster unter sich liegen sah. Flache Dächer, vom gleichen Braun wie die umliegenden Berge, beherrschten die quadratische Ansammlung alter Gebäude. An sie schloss sich ein Garten aus Zypressen und Obstbäumen an, langgestreckt wie der Verlauf des Wadi ed-Deir, des Klostertals.
Die siebzehn Mönche des Katharinenordens lebten nach strengen Regeln, denen sich auch ihre Gäste, die acht Männer und eine Frau des Templum Novum, unterordnen mussten. Doch es war weder das Aufstehen um halb drei nachts noch die einzige karge Mahlzeit, die sie am Nachmittag einnahmen, gegen die Gillian sich von Anfang an aufgelehnt hatte. Vielmehr weigerte er sich, täglich mehrere Stunden mit Gebeten und Gottesdiensten zu verbringen, auch wenn er bald einsehen musste, dass es hier draußen wenig anderes gab, womit man sich die Zeit vertreiben konnte. Gewiss, er half bei der Auslese des Getreides, mit dem die Beduinenstämme das Kloster belieferten, und da war auch die Bibliothek, die ihn ein paar Monate lang bei Laune hielt. Seine wahre Bestimmung aber hatte er in der Pflege Lascaris gefunden.
Gillian hastete durch das Tor des Klosters, durchquerte das enge Netz aus Gässchen zwischen den Gebäuden und entdeckte schließlich Karisma, die ihn ungeduldig vor dem Tor des Gästehauses erwartete.
Er blieb stehen, stützte sich mit einer Hand gegen den Türrahmen und atmete schwer. »Komme ich zu spät?«
»Nein. Giacomo und ein paar Mönche sind bei ihm. Aber er will nur mit dir sprechen.«
Er nickte. Das hatte er befürchtet. Lascari hatte schon früher Andeutungen gemacht, die ihn beunruhigten. »Gehen wir.«
Er wollte das Haus betreten, doch
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