Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
wie sie mit geschmeidigen Schritten Richtung Brücke ging. Sie wusste, dass er sie beobachtete. Und er wusste, dass sie es wusste. Ihr gemeinsames Dilemma.
Es ist nicht unsere Schuld, Karisma. Lascari hat es so gewollt. Er hat uns die Verantwortung übertragen.
Nein, falsch. Er sie mir übertragen. Aber er hat gewusst, dass du mir folgen würdest. Das hast du von Anfang an getan, seit deinem ersten Tag im Templum Novum.
Er sog scharf die heiße Luft ein und konnte doch die Augen nicht von ihr abwenden, als sie die schmale Stahltreppe zum Glaskäfig des Kapitäns hinaufstieg. Sie trug weiße Hosen und ein helles, langes Hemd. Der Wind presste es eng an ihren Oberkörper, gegen die kleinen, festen Brüste. Sie gab vor, nicht zu sehen, wie Gillian eine Spur zu abrupt den Kopf abwandte. Mit einem Knirschen fiel die Tür der Brücke hinter ihr zu.
Gillian schüttelte sanft den Kopf. Karisma würde sich erneut mit dem Kapitän anlegen. Sie würde ihm vorwerfen, dass sie zu langsam wären. Wieder einmal würde sie ihm drohen, den Preis für die Überfahrt zu kürzen.
Keine gute Idee. Wenn sie so weitermachte, würde die Mannschaft eines Nachts versuchen, sie über Bord zu werfen. Acht Matrosen, der Kapitän und sein Erster Offizier. Sie hatten nicht die Spur einer Chance gegen zwei Ritter des Templum Novum. Aber das würden die Männer erst bemerken, wenn es zu spät war, und es würde die Dinge unnötig komplizieren. Sie hatten den langen Weg von der Küste der Sinai-Halbinsel, durch den Suez-Kanal und über das halbe Mittelmeer auf diesem Schiff zurückgelegt, und es ärgerte Gillian, dass Karisma alles auf Spiel setzte, nur weil sie so ungeduldig war.
Dabei hatte er insgeheim längst dieselbe Vermutung wie sie. Der Kapitän hielt die Maschinen absichtlich unterhalb der vollen Kapazität. Vielleicht war bei seinen beiden Passagieren ja doch mehr zu holen als der vereinbarte Preis für die Überfahrt.
Wäre daran auch nur ein Körnchen Wahrheit, dann wären sie nicht hier.
Die Tür der Brücke flog auf. Karisma drehte sich noch einmal um, rief zornig etwas ins Innere und stürmte dann aufgebracht die Treppe herunter. Sie kam zu Gillian herüber, der sich wünschte, sie würde ihn mit diesen Dingen in Frieden lassen. Es gab genügend anderes, über das er sich den Kopf zerbrach.
Sie blieb neben ihm stehen. »Dieses Schwein!« Ihr spanischer Akzent war zauberhaft, wenn sie wütend war. Allerdings hätte er sich lieber die Zunge abgebissen, als das ausgerechnet jetzt zu erwähnen.
»Er droht, uns über Bord zu werfen«, sagte sie.
Na also, dachte Gillian mit einem Stoßseufzer und starrte auf die See. Manchmal gelang es dem Spiel der Wellen, ihn zu beruhigen. Nicht jetzt. Dafür würde Karisma schon sorgen.
»Wer wird uns nach Spanien bringen, wenn er es tatsächlich versucht?« Sie umklammerte die Reling mit beiden Händen, bis die Adern auf ihren Handrücken hervortraten. »Ich meine, wir können ihnen nicht allen die Kehle durchschneiden.«
»Wir werden niemandem die Kehle durchschneiden«, sagte Gillian ruhig. Er sah sie dabei nicht an.
»Nein.« Sie schnaubte verächtlich. »Natürlich nicht. Solange sie uns eine andere Wahl lassen.«
»Das werden sie. Ich rede mit dem Kapitän. Später.«
Warum richtete sie ihren Zorn nicht auf ihn? Im Grunde sagte er nichts anderes, als dass er sich in ihrem Namen entschuldigen und gute Miene zum bösen Spiel machen würde. Aber sie nahm es ihm nicht übel. Sicher nicht allein deshalb, weil er der neue Großmeister des Templum Novum war.
Sie hatte andere Gründe, und er kannte sie genau. »Ich hasse das Meer«, sagte sie nach einer Pause. »Nicht genug Leute da, die man anbrüllen kann?« Sie lächelte. »Unter anderem.«
»Es wird nicht mehr lange dauern. Wir haben das Schlimmste hinter uns.« Vorausgesetzt, kein Kanonenboot beschließt, uns einen Torpedo vor den Bug zu jagen.
»Und dann?« Ihre linke Hand näherte sich auf der Reling seiner Rechten. Im letzten Moment stoppte sie, bevor sie einander berührten.
Das also ist aus Lascaris großartiger Vision geworden, dachte er. Der Templum Novum, der letzte Zweig der Tempelritter, geführt von einem wankelmütigen Großmeister, halb Mann, halb Frau, der kaum in der Lage ist, den Annäherungsversuchen einer Ordensschwester zu widerstehen. Geschweige denn, die Geschicke des ganzen Or-dens zu bestimmen.
Hatte Lascari das vorausgesehen? Hatte er ihn deshalb nach Spanien entsandt? Damit Bruder Giacomo oder einer der
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