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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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anderen, die kompetenter waren als er, die Zurückgebliebenen auf eine Weise führen konnte, die den Geboten des Templum Novum angemessen war? Gillian, der Draufgänger, gut genug für die Drecksarbeit. Und Giacomo und die übrigen für die Gebete und das fromme Leben hinter Klostermauern.
    Welche Rolle aber spielte dann Karisma in den Plänen des verstorbenen Großmeisters? Lascari hatte sie gut genug gekannt, um zu wissen, was sie für Gillian empfand. Hatte er ihn auf die Probe stellen wollen? Aber, verdammt, was für eine Probe war das, wenn es niemanden gab, der sie überwachte?
    Gillian schloss für ein paar Sekunden die Augen, bis er spürte, dass etwas über seine Hand strich. Beinahe panisch zog er sie fort, aber als er die Augen aufschlug und hinsah, war es nur der Wind. Karismas Finger ruhten unverändert ein paar Zentimeter weiter rechts auf der Reling.
    Beschämt schaute er zu ihr hinüber, aber sie hatte sein Erschrecken nicht bemerkt. Falls doch, so zeigte sie es nicht.
    »Ich hatte einmal einen Hund«, sagte sie unvermittelt, während ihre Augen über den Ozean schweiften. »Ein kleiner Mischling. Ich war noch klein damals, noch ein Kind. Ich hab immer einen Stock geworfen, den er dann geholt und vor meine Füße gelegt hat. Alle machen das, oder? Eines Tages hab ich den Stock über einen Felsspalt geworfen. Der Abgrund war zu breit für einen Sprung. Der Hund hat das genau gewusst. Verstehst du? Er wusste, dass er nicht so weit springen konnte. Aber er hat es trotzdem versucht. Für mich. Aus Loyalität oder aus Liebe. Er ist gesprungen. Obwohl er wusste, dass er es nicht schaffen würde. Er ist gesprungen.«
    »Und? Hat er’s geschafft?«
    Karisma lächelte traurig, dann wandte sie sich wortlos ab und ging zurück zur Treppe nach unten.
    Eine Möwe ließ sich neben Gillian auf der Reling nieder. Der Schiffsbug teilte die schäumende See.
    Die Möwe starrte Gillian an, stieß sich ab und flog weiter.
    Karisma verschwand unter Deck. Gillian sah über den Bug nach vorn. Oben auf der Brücke fluchte der Kapitän.
    Aus dem Nichts tauchte ein schwarzes Kanonenboot auf und hielt geradewegs auf sie zu.
    Zwei Wochen zuvor. Hitze. Wüste. Und die Berge des Sinai.
    Gillian stand auf dem Gipfel des Djebel Musa und versuchte, an nichts zu denken. Sein Blick glitt langsam über die Gebirgskette, über braune, knollige Granitkuppen, ein Ödland aus Felsen und Sand.
    Er mochte dieses Land nicht, und hätten die Mönche im Katharinenkloster ihn und die anderen nicht so freundschaftlich aufgenommen, hätte er es hier keine zwei Tage ausgehalten.
    Unweit von ihm bezeichnete eine kleine Kapelle den Ort, an dem Moses der Legende nach die Zehn Gebote in Empfang genommen hatte. Der Bau aus ockerfarbenem Granit erhob sich über einer Steilwand und trotzte seit Jahrhunderten den Stürmen, die in unregelmäßigen Abständen die Wüstenhitze den Berg heraufwehten. Ein paar Meter weiter westlich stand eine winzige Moschee, kaum groß genug, um eine Hand voll Gläubige aufzunehmen.
    Aber Gillian war allein. Er kam gern hier herauf, auch wenn sich das Land von hier aus noch trister, noch einsamer darbot. Die gewaltigen Felshänge, die das Tal und das Kloster überschatteten, bereiteten ihm Unbehagen. Zwischen ihnen fühlte er sich wie ein Gefangener in einem Kerker aus Jahrmillionen altem Granit. Hier oben aber, auf dem Gipfel des Mosesberges, roch die Luft nicht nach Männerschweiß und Weihrauch, und das Kloster mit seinen starren Riten und Regeln war weit entfernt. Hier konnte er durchatmen, ohne sich bedrängt und beobachtet zu fühlen. Hier betrachtete ihn niemand argwöhnisch aus den Schatten, weil sein Körper nicht der eines Mannes und nicht der einer Frau war, sondern ein Hybrid aus beidem. Er bezweifelte, dass man in all den Zeitaltern, seit der Erbauung des Klosters durch den Kaiser Justinian im sechsten Jahrhundert, jemanden wie ihn hier gesehen hatte. Ein Hermaphrodit, der die Merkmale beider Geschlechter in sich vereinte. Die meisten hielten ihn für einen Mann, weil dies sein bevorzugtes Erscheinungsbild war. Dennoch hatte es nicht lange gedauert, bis die Mönche des Klosters die Wahrheit erkannt hatten. Seine weiblichen Brüste schnürte er mit Binden, die sie flach erscheinen ließen, und sein Gesicht schien stets von etwas Diffusem umflossen, das ihn trotz der fein geschnittenen Wangenknochen weder eindeutig maskulin noch feminin aussehen ließ. Manche Männer fühlten sich unwohl in seiner Gegenwart,

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