Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
ihr.«
»Das Weibliche ist in dir so stark wie das Männliche«, sagte Lascari, nun wieder erstaunlich gefasst und deutlich. »Du wirst einen neuen Tempel bauen, einen, der seinen Namen verdient. Dinge müssen sich ändern. Du bist stark genug, vom Alten abzuweichen und Neues zu schaffen. Auch in Adam war das Weibliche stark, als der Herr aus seiner Rippe Eva erschuf. Er war der Stammvater. Und auch du wirst ein Stammvater sein, Gillian.«
Er wollte widersprechen, doch da legte Giacomo ihm von hinten seine Hand auf die Schulter. Sie war entsetzlich leicht, wie aus Pa-pier, und nicht zum ersten Mal wurde Gillian bewusst, wie alt die übrigen Templer waren. Karisma ausgenommen, war da keiner, der nicht bereits sein siebzigstes Jahr überschritten hatte. Viele würden das Jahrzehnt nicht überleben.
Was Lascari plante, war klar. Ein junger Templum Novum. Neue Brüder und Schwestern wie Gillian und Karisma. Frisches Blut, das die Versäumnisse der Alten hinwegspülte, aber ihr Vermächtnis aufrechterhielt. So lange Gillian ihn kannte, hatte Lascari von einer Verjüngung des Ordens geträumt, doch der Graf war niemals energisch genug gewesen, mit Traditionen zu brechen und seine Pläne in die Tat umzusetzen. Die Aufnahme Gillians war ein Versuch gewesen. Dann, viel später, war die Weihe Karismas der nächste Schritt. Möglich, dass es weitere gegeben hätte, wären sie nicht gezwungen gewesen, Venedig Hals über Kopf zu verlassen.
Lascari selbst hatte gerade noch die Kraft gehabt, sie hierher in Sicherheit zu bringen, an diesen Ort, der für den Orden eine vorübergehende Zuflucht, aber auch ein Grab sein mochte. Die Entscheidung lag jetzt bei Gillian.
Was soll ich tun? dachte er, und ehe er sich versah, hatte er den Gedanken laut ausgesprochen. Alle verstanden es als Zeichen seiner Zustimmung. Sie glaubten, er überlege bereits, wie er sie von hier fort und den Orden in eine neue Ära führen könnte.
Allein Karisma erkannte die Wahrheit. Und obwohl niemand sie aufgefordert hatte, trat sie ins Zimmer, drängte sich an Giorgios und Vater Ephgenios vorbei und ging neben Gillian in die Hocke. Sie brachte ihre Lippen ganz nah an sein Ohr.
»Es ist dein Leben. Deine Wahl. Triff du sie.«
Gillian sah, dass Lascaris Mundwinkel zuckten. Der alte Mann versuchte zu lächeln, zum ersten Mal seit vielen Wochen.
Draußen läuteten die Glocken zur Vesper. Wind pfiff durch das offene Fenster. Ephgenios Kutte wogte wie ein schwarzes Segel.
Gillian nickte unmerklich.
Und dann, bevor Lascari zum letzten Mal tief durchatmete und die Luft mit einem Zischen aus seinen Lungen entwich, erklärte er ihm, was zu tun war.
Die Soldaten an Bord des italienischen Kanonenbootes kontrollierten alle Papiere und die Frachträume, beließen es aber bei dem Hinweis, der Kapitän und sein Schiff mögen sich nicht länger als nötig in diesen Gewässern aufhalten. Ob er nicht gehört habe, dass ein Krieg kurz bevorstehe. Ob er nicht wisse, welche Gefahren ihnen drohten. Und ob es nicht eine verflucht gute Sache sei, dass endlich einmal jemand diesen verdammten Russen zeige, wo es lang gehe.
Als die Italiener ablegten, wusste Gillian, dass Karisma Recht gehabt hatte. Das Schiff konnte schneller fahren, wenn der Kapitän es wollte. Der Fahrtwind wurde so stark, dass er beschloss, unter Deck zu gehen.
Als er sich ihren Quartieren näherte, sah er, dass Karismas Kabinentür einen Spalt weit offen stand. Sie klapperte bei jeder Woge, die vor dem Bug des Schiffes brach. Einen Augenblick lang war er beunruhigt – sie hätte nicht mit dem Kapitän streiten sollen –, dann überfiel ihn eine Sorge anderer Art.
Es war eine Einladung. Komm rein, Gillian. Und mach die Tür zu. Eine Einladung an ihn.
Er wollte hineinstürmen und sie zurechtweisen, ihr erklären, dass ihr Verhalten ihre Mission nicht eben einfacher machte. Aber dann schob er die Tür einfach auf und stellte überrascht fest, dass die Ka-bine leer war.
Als er sich verwundert umdrehte, kam Karisma den Gang herab auf ihn zu.
»Suchst du jemanden?« Ihre Stimme war so unbefangen wie die eines kleinen Mädchens. Es klang nicht gespielt.
Einen Augenblick lang kam er sich entsetzlich dumm vor. Trotzdem gelang es ihm, ihrem feixenden Blick standzuhalten.
»Die Tür war offen. Ich hab mir Sorgen gemacht.«
»Ich war auf der Toilette.«
»Oh.«
Sie drängte sich an ihm vorbei. Ganz kurz berührten ihre Brüste die seinen. Für sie musste das eigenartig sein, aber sie ließ sich nicht aus
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