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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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er durch Belüftungsschächte im oberen Teil der Bibliothek abgesaugt.
    Als sie hochschaute, sah sie zwei Schuhsohlen, genau über sich, auf der Plattform des oberen Stockwerks.
    Sie holte tief Luft.
    »Hallo? Monsieur Grimaud?«
    Wie in Trance überwand sie die letzten Stufen.
    Der Gestank wurde so stark, als wäre sie kopfüber in einen Topf mit faulender Fleischbrühe getaucht. Sie hielt sich die Nase zu, aber ihr kam es vor, als dränge der Verwesungsgestank durch jede ihrer Poren, überschwemmte sie wie etwas Öliges, Klebriges.
    Jemand hatte ihn mit den Armen nach hinten an die Spindel gefesselt. Er musste seit Tagen tot sein, vielleicht seit einer Woche. Fliegen tummelten sich auf dem Leichnam.
    Ein Gehrock, leicht zerschlissen, aber noch nicht gänzlich aus der Mode. Schuhe aus teurem Leder, voller Blut. Ein gezwirbelter Schnauzbart. Und, Gott sei Dank, geschlossene Augen. Am Tag seines Todes hatte er sein Haar mit Pomade nach hinten gekämmt. Eine einzelne Strähne hatte sich gelöst, womöglich im Kampf mit dem Mörder; sie war über seine Stirn nach vorne gefallen. Ihr Schatten verlief als schmaler Zacken quer über das Gesicht, sodass Aura ihn im ersten Moment für eine Wunde hielt. Ein tiefer Schnitt, vielleicht. Ein Hieb mit einer Klinge. Aber, nein, nur der Schatten der Haarsträhne. Sie suchte vergeblich nach anderen Verletzungen, aus denen das viele Blut ausgetreten war.
    Erst als sie den Leichnam umrundete, erkannte sie die Wahrheit.
    Grimaud hatte keine Hände mehr. Jemand hatte sie abgesägt, nachdem er die Arme seines Opfers um die Treppenspindel gelegt und gefesselt hatte.
    Aura beugte sich über das Geländer und übergab sich. Mit bebender Hand wischte sie sich über die Lippen, gab sich einen Ruck und wandte sich erneut den Wunden zu.
    Zwei Armstümpfe mit gezackten, angelaufenen Rändern.
    Grimaud war hier oben verblutet. Vielleicht hatte der Schmerz ihm gleich zu Beginn seines Sterbens das Bewusstsein geraubt. Aura wünschte es ihm.
    Sie wich einen Schritt zurück, blickte sich noch einmal auf der Galerie um und machte sich dann an den Abstieg. Grimaud war vor mehreren Tagen getötet worden. Sein Mörder war nicht mehr hier, niemand würde ihr am Fuß der Treppe auflauern. Trotzdem schnürte sich ihr Brustkorb mit jeder Stufe ein wenig enger zusammen.
    Unten angekommen löste sich ein Teil ihrer Anspannung. Sie war allein in der Bibliothek.
    Sie wollte schon zur Tür gehen, als sie die Blutstropfen sah, die über das Parkett hinter den Schreibtisch führten. Grimaud selbst war auf der Treppe gestorben. Demnach musste sein Mörder nach der Tat zum Schreibtisch gegangen sein. Das Blut stammte vermutlich von den Händen, die er seinem Opfer amputiert hatte.
    Sie wollte fort von hier, jetzt gleich. Und dennoch konnte sie nicht anders: Widerwillig folgte sie der Spur.
    Hinter dem Schreibtisch war das Parkett dunkel von Blut. Inmitten der getrockneten Pfütze lagen dunkel verfärbte Überreste beider Hände, und sie brauchte einen Moment, ehe sie ihren Ekel so weit im Griff hatte, dass sie sich vorbeugen und ihren Fund inspizieren konnte.
    Es waren zwei halbe Hände, sauber in der Mitte von oben nach un-ten durchtrennt. Die eine zwischen Zeige- und Mittelfinger, die andere zwischen Mittel- und Ringfinger.
    Festgebacken im trockenen Blut lagen noch andere Gegenstände. Ein Fingerhut. Eine gebogene chirurgische Nadel. Reste von Fäden.
    Und eine Genügelschere.
    Aura taumelte zurück, bekam die Lehne des Stuhls zu fassen und ließ sich auf das Lederpolster fallen. Sie hatte schon früher Leichenteile gesehen; damals, im Sankt-Jakobus-Stift in den Schweizer Alpen, war eine Mitschülerin vor ihren Augen abgeschlachtet worden. Doch das hier war etwas anderes.
    Ihr Blick, auf der Suche nach etwas, an das er sich klammern konnte, huschte über den Schreibtisch, über das Gebirge aus Büchern, Papieren und Ordnern.
    In der Mitte lag ein aufgeschlagenes Buch. Auf der rechten Seite prangte ein blutiger Abdruck, dunkelbraun, fast schwarz. Die Hand mit sechs Fingern. Der Stern des Magus.
    Keine Überraschung. Jetzt nicht mehr.
    Kein Mann mit sechs Fingern an einer Hand. Kein schlechter Scherz der Natur. Stattdessen ein Stempel aus Leichenteilen, zusammengenäht aus den Hälften von Grimauds Händen. Hier, in dieser Bibliothek, war er angefertigt und zum ersten Mal benutzt worden. Auf diesem Buch. Der Mörder war in umgekehrter Reihenfolge zu Auras Entdeckungen vorgegangen. Zuerst, vor mehreren Tagen hatte er

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