Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Grimaud getötet; dann hatte er das Buch im Laden der Dujols mit der blutigen Hand markiert; zuletzt war er in Auras Hotelzimmer eingedrungen und hatte den Abdruck auf dem Bett hinterlassen.
In Grimauds Bibliothek hatte es begonnen. Und das war vermutlich auch das vorläufige Ende ihrer Suche. Grimauds Mörder hatte sie hierher lotsen wollen. Aber hätte er das nicht einfacher haben können? Nein, er musste sie wissen lassen, wie ernst es ihm war. Dass er nicht vor einem Mord zurückschreckte. Und dass er in der Lage war, jeden ihrer Schritte vorauszusehen.
Der Schlag ihres Herzens erfüllte sie bis zum Bersten. Langsam beugte sie sich vor und betrachtete das aufgeschlagene Buch. Die linke Seite war unbedruckt, das Bild rechts daneben durch das getrocknete Blut fast unkenntlich geworden. Aura konnte in den Zwischenräumen der krustigen Fingerumrisse sehen, dass es sich um die Federzeichnung einer Burg handelte, einer Festung umgeben von Bergen. Sie würde das Blut wegkratzen müssen, um weitere Einzelheiten zu erkennen.
Sehr vorsichtig schloss sie die Buchdeckel. Der Titel war auf Spanisch, eine Sprache, die sie nicht verstand. Anhand ihrer Latein- und Französischkenntnisse konnte sie jedoch entziffern, dass es sich um ein Buch über die Pyrenäen handelte, um eine Sammlung von Reiseberichten aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts.
Die Pyrenäen. Sie kannte ein Kastell, das sich auf einem dieser Berge erhob.
Egal, dafür war später noch Zeit.
Sie klemmte sich das Buch unter den Arm und eilte zur Tür. Rasch durch den Flur, vorbei am Bett des Toten.
Hinaus ins Treppenhaus. Die Stufen hinunter, durch den Hof und ins Tageslicht der Straße.
Der Kutscher hatte Wort gehalten. Er saß auf dem Kutschbock und zog an seiner Pfeife. Als er Aura sah, sprang er eilfertig hinab zu ihr aufs Pflaster.
»Liebe Güte, Mademoiselle! Was ist passiert?«
»Nichts.« Sie wich ihm aus und stieg ohne seine Hilfe in die Droschke. »Fahren Sie los. Schnell!«
Er würde sich an sie erinnern, wenn die Polizei sich auf die Suche nach dem Mörder machte. Falls man ihn befragte, würde er sie beschreiben. Ihre Erregung, nachdem sie das Haus verlassen hatte.
Das Mindeste, was sie tun konnte, war sich nicht direkt zum Hotel fahren zu lassen. Möglich, dass sie dadurch ein paar Stunden, vielleicht einen ganzen Tag Vorsprung gewann.
Der Kutscher gab seinen Pferden die Peitsche. Das Gefährt klapperte los.
Nur langsam wurde sie ruhiger. Die Furcht wich einer tiefergehenden Besorgnis und Unruhe. Bis heute hatte niemand die Leiche gefunden. Es konnte noch Tage dauern, bis jemand nach Grimaud suchte, möglicherweise länger. Bis dahin war sie längst fort aus Paris, das wusste sie jetzt mit Bestimmtheit. Spätestens morgen früh würde sie abreisen. Wohin? Die Grenze zum Deutschen Reich war geschlossen, dort würden bald die ersten Armeen aufeinander tref-fen. Vielleicht mit Philippe nach Brest. Ja, das war eine Möglichkeit.
Sie ließ sich vom Kutscher einige Straßenzüge vom Fluss entfernt absetzen, vergaß beinahe, ihn zu bezahlen, und eilte dann zu Fuß zurück zum Hotel.
In ihrem Zimmer schlug sie das Buch auf, blätterte fahrig darin, fand gezeichnete Landschaftspanoramen, weitere Burgen, folkloristische Abbildungen der Bergbewohner und Portraits von Königen und Fürsten, die in der Geschichte der Pyrenäen eine Rolle gespielt hat-ten.
Als ihr klar wurde, dass sie den Augenblick, in dem sie sich erneut mit dem Handabdruck beschäftigen musste, nur hinauszögerte, fasste sie sich ein Herz und schlug die verkrustete Doppelseite auf.
Das getrocknete Blut hatte nichts an Abscheulichkeit verloren, auch wenn es hier, in der scheinbaren Sicherheit ihres Hotelzimmers, abstrakter, weniger real wirkte. Sogar die Erinnerung an Grimaud begann vor ihrem geistigen Auge zu verschwimmen.
Sie holte eine Nagelfeile aus dem Bad, setzte sich vor das Buch und machte sich daran, die Blutkruste zu entfernen. Es war nicht ganz einfach, und mehrfach glitt sie ab und stach durch das dünne Papier.
Alles, was sie brauchte, war eine Bestätigung. Sie ahnte bereits, um welche Burg es sich handelte.
Ein paar Minuten später hatte sie Gewissheit.
Vor sich sah sie das Kastell ihres Vaters, hoch oben in den Pyrenäen, dem Grenzgebirge zwischen Frankreich und Spanien. Die Burg erhob sich über dem nördlichen der beiden Täler, die den Zwergstaat Andorra bildeten.
Gillian war der erste, der ihr davon erzählt hatte, vor siebzehn Jahren auf einer
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