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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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über das Wasser, träge und behäbig wie die Menschenströme auf den Straßen.
    Eine Entscheidung.
    Warum waren die Dinge früher so viel einfacher gewesen? Oder waren sie das gar nicht? Lebte sie mit einer Illusion, mit verwaschenen Erinnerungen, die die Vergangenheit verklärten? Dabei war doch immer Gillian der Nostalgiker gewesen.
    Nun mach schon! Eine Entscheidung! Gut, dachte sie. Es muss sein.
    Zuerst die Kaskadens. Sie musste mehr über den Chevalier erfahren. Die Zwillinge waren ihre einzige Spur.
    Und dann würde sie aufbrechen. Richtung Süden, fort von den Fronten dieses wahnsinnigen Krieges. Fort aus dem Hexenkessel dieser Stadt mit ihrer Geheimpolizei, den Spionen und den unschuldigen Opfern einer Suche, die sie noch immer nicht gänzlich verstand.
    Sie würde eine Reise machen. Und warum eigentlich nicht in die Pyrenäen?
    Sie atmete tief durch und fühlte eine Spur von Erleichterung, nun, da sie wusste, was sie als Nächstes tun würde.
    Vor dem Fenster schob sich eine einzelne Wolke über den Sommerhimmel. Ihre ausgefransten Ränder tasteten wie Finger nach der Sonne und verschluckten sie. Von einem Herzschlag zum nächsten erfüllte Dämmerlicht das Zimmer, als hätte eine unsichtbare Hand die Vorhänge zugezogen.
    Aura dachte an die Geflügelschere.

KAPITEL 9
    Tess wartete darauf, dass der Ritter ihr erschien. Doch so sehr sie ihn sich auch herbeiwünschte, ein strahlender, vertrauter Punkt im Chaos ihrer Empfindungen – er kam nicht.
    Seit man sie von Gian getrennt hatte, waren die Visionen ausgeblieben. Damit war ihre anfängliche Befürchtung zur Gewissheit geworden: Der Grund für das Erscheinen des Ritters waren Gians nächtliche Besuche an ihrem Bett gewesen, seine heimliche Kontaktaufnahme mit der Vergangenheit ihrer Vorfahren. Er hatte mit ihrer unfreiwilligen Hilfe das Wissen angezapft, das in ihnen beiden schlummerte. Und obwohl Tess lange Zeit nichts davon bemerkt hat-te, waren Teile davon in ihr Wachsein gedrungen, Rückstände dieser unbewussten Ausflüge in das Leben von Nestor und Lysander.
    Es hatte nie wirklich einen Ritter gegeben, der vor ihren Augen über die Dünen ritt – und falls doch, war es Jahrhunderte her. Alles, was Tess von ihm sah, war so unwirklich wie die Glutpunkte hinter ihren Lidern, wenn sie zu lange in den Wüstenhimmel geblickt hatte. Nichts als Schatten von Ereignissen, die vor langer, langer Zeit stattgefunden hatten.
    Sie fragte sich, ob Gian vielleicht mehr über den Ritter wusste, als er zugegeben hatte. Im Gegensatz zu ihr hatte er die nächtlichen Streifzüge durch die Vergangenheit bei vollem Bewusstsein erlebt.
    Was war es, wonach er gesucht hatte? Wollte er wirklich nur seine Neugier stillen?
    In der Finsternis, in die sich ihr Verstand in den vergangenen Ta-gen zurückgezogen hatte, erschien plötzlich eine Warnung wie eine Feuerschrift:
    Sie töten dich, Tess. Wenn du nicht schnell von hier verschwindest, werden sie dich töten.
    Sie hob den Kopf und öffnete die Augen. Nicht mehr zögern. Nicht mehr nachdenken.
    Jetzt oder nie.
    Einen Moment lang klammerten sich ihre Hände noch fester um das Stahlgestänge der Reling. Dann aber überwand sie ihren Widerwillen, blickte sich ein letztes Mal prüfend um und zog ihre Beine über das Geländer. Sie befand sich etwa drei Meter über der Wasseroberfläche. Wenn sie einfach hinuntersprang, würde gewiss jemand ihren Aufprall hören. Auch wenn sie die Wachtposten nicht sah, wusste sie doch, dass welche da waren, vermutlich gar nicht weit von ihr. Aber wollte sie nicht sogar aufgehalten werden? Der Preis für eine Flucht mochte ein allzu hoher sein. Vielleicht – großer Gott, ja, vielleicht – würde sie Gian nie Wiedersehen.
    Denk jetzt nicht an ihn! Es geht jetzt nur um dich. Ganz allein um dich.
    Sie hatten sie entführt, gewiss. Aber sie hatten ihr nichts zuleide getan. Genaugenommen hatten sie ihr gar keine Beachtung geschenkt, abgesehen von den drei kargen Mahlzeit täglich, die sie ihr in die Kabine gebracht hatten. Nichts sonst. Keine Drohungen. Kein Zwang, irgendwelche Lösegeldforderungen zu unterzeichnen Auch nicht der Versuch, ihr auf andere Weise zu nahe zu kommen. Vor ihrer Kabine stand nicht einmal ein Wächter. Nur ein kleines Mädchen, dachten sie vermutlich; sie wird uns nicht davonlaufen. Und wohin auch?
    Seit jener Nacht in der Wüste hatte sie Gian nicht mehr gesehen. Sie vermutete, dass auch er an Bord dieses Schiffes war. Einen konkreten Beweis dafür hatte sie nicht.
    Mach

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