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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Nachthimmel waren die Wolken aufgerissen und gaben die Bühne frei für die leuchtende Mondsichel. Sie fand ihr Spiegelbild in der gebogenen Klinge, die Sophia an Sylvettes Kehle hielt, kein Messer, sondern etwas wie ein Fingerhut, der in eine schmale, daumenlange Schneide überging. Mit derselben Waffe hatte sie Lysander getötet. Der Stahl schimmerte wie ein böses Grinsen in der Dunkelheit.
    Aura blieb stehen, als sie die beiden Frauen entdeckte, hoch oben auf der Wölbung des Daches, auf einer der Eisenstreben, die die atemberaubende Konstruktion aus Glas und Metall in der Schwebe hielten. Die Scheiben waren so schmutzig, als wäre ein Regen aus Sand und Asche auf ihre Oberflächen niedergegangen.
    Aura und Gillian standen am Rand des Daches, etwa zwanzig Meter entfernt in einer Art steinernen Rinne, wo die Passage an das Palais Octavian grenzte. »Sylvette!«
    Ihre Schwester wollte augenscheinlich antworten, doch Sophia flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie schweigen ließ. Der Nachtwind aus den Hügeln rund um Prag zerzauste Sylvettes weißblondes Haar, während sich Sophias blutverklebte Kristallsträhnen nicht regten.
    »Lass sie gehen!«, rief Gillian. »Ich komme zu dir, wenn es das ist, was du willst.«
    »Ich soll dich in meine Nähe lassen? Den Mann, der mir ohne Skrupel alles genommen hat, was ich jemals geliebt habe? Ich weiß, was du bist und wer dich erschaffen hat, Gillian! Ich wäre eine Närrin, würde ich mich ausgerechnet dir ausliefern.«

    Aura rief: »Mein Vater hat es nicht verdient, dass du für ihn tötest, Sophia! Er war eine Bestie!«
    Sophia schüttelte den Kopf. »Wie lange hast du ihn gekannt? Sechzehn, siebzehn Jahre? Nestor und ich waren so viel länger ein Paar! Sag du mir nicht, was für ein Mensch er war!«
    »Du willst nur mich«, sagte Gillian. »Ich habe Nestor getötet. Aber Sylvette war nur ein Opfer Lysanders, genau wie du!«
    Einen Augenblick lang schien es, als würde Sophia der Wahnsinn der Situation bewusst. Tatsächlich bedrohte sie ausgerechnet jene Frau, die ebenfalls unter Lysander hatte leiden müssen. Sylvette mochte vieles davon verziehen haben, aber das änderte nichts an dem, was sie erlitten hatte.
    Die Dachkonstruktion unter den beiden ächzte und klirrte, als Stahl und Scheiben aneinanderrieben. Aura erinnerte es an das Stöhnen eines Schiffes bei Sturm, wenn ungeheuerliche Kräfte und Gegenkräfte aufeinander einwirkten. Das Dach musste zahllose Tonnen wiegen, aufgespannt wie ein Tuch zwischen dem Palais Octavian und einem weiteren Barockpalast. Wie eine gigantische Woge aus Glas, die jeden Moment auf sie zurollen und brechen mochte.
    »Du hast eine Waffe, Gillian!« Sophias kindliche Gestalt verschwand beinahe hinter der schlanken Sylvette. »Zeig sie mir!«
    Ohne Zögern zog er mit Daumen und Zeigefinger die Pistole hinter dem Rücken hervor. Langsam hielt er sie hoch, damit Sophia sie sehen konnte.
    »Habt ihr noch mehr davon? Aura?«
    Aura hob die Hände und schüttelte den Kopf.
    »Komm ein Stück näher!«, befahl Sophia Gillian. »Aber nicht zu nah! Und versuch nicht, auf mich zu schießen. Selbst wenn es dir gelänge, mich zu treffen, würde Sylvette mit mir sterben.«
    Da erst erkannte Aura, dass sich das Glasquadrat unmittelbar vor den beiden Frauen von den übrigen unterschied. Das
schwache Mondlicht überzog sie alle mit einem grauen Schleier, der auf diesem einen Stück fehlte. Dafür leuchtete das gelbe Licht der Passagenbeleuchtung herauf, beschien die Gesichter der beiden von unten und ließ Sophias glasiges Haar erglühen.
    Der Rahmen – zwei mal zwei Meter breit – war leer, es befand sich kein Glas mehr darin: Unmittelbar vor Sophia und Sylvette klaffte ein Abgrund, vier Stockwerke tief.
    »Hast du’s gesehen?«, flüsterte sie Gillian zu.
    Er nickte.
    »Sophia wird sie so oder so töten«, presste Aura hervor.
    »Nicht, wenn ich es verhindern kann.« Damit trat er vom gemauerten Rand des Daches auf das titanische Stahlgerippe, das Rückgrat des Glasdachs. Die Querträger, die sich zwischen den beiden Palästen spannten, waren annähernd einen Meter breit und hatten eine gestufte Oberfläche, um Arbeitern den Aufstieg zu erleichtern. Das sanfte Glimmen der Lampen unten in der Passage umrahmte sie mit einem matten Glanz.
    »Halt!«, kommandierte Sophia, als Gillian den halben Weg zwischen Aura und ihr zurückgelegt hatte. »Und jetzt feuerst du alle Kugeln in das Glas gleich neben dir!«
    Auras Blick flackerte von Gillian zu Sylvette

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