Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
diejenige, die im Schloss lebte und die Löhne auszahlte; Aura, die Erstgeborene, war längst zu einer Fremden geworden. Dass sie auf beunruhigende Weise alterslos war, musste ebenfalls dazu beitragen, dass viele ihr mir Argwohn begegneten.
Als sie die Kuppe der Felsen rund um die Insel erreichten, drängte Tess sich mit sanftem Druck von hinten zwischen die Schwestern. Auf den ersten Blick schien sie die beiden trennen zu wollen, damit ihr eisiges Schweigen nicht mehr so auffällig war. Aber Aura glaubte, dass es Tess um etwas anderes ging: Zu
dritt bildeten sie nach wie vor eine Familie, sie gingen diesen Weg gemeinsam, und wenn es eines bindenden Elements zwischen den Schwestern bedurfte, dann wollte Tess das sein. Aura schenkte ihr ein kurzes Lächeln, um ihr zu signalisieren, dass sie verstanden hatte.
Sylvette beugte sich im Gehen vor und sagte an ihrer Tochter vorbei zu Aura: »Wie fühlt es sich an zu wissen, dass du Mutter hättest retten können?«
Der Vorwurf kam derart aus dem Nichts, war so infam und ungerecht, dass es Aura einen Moment lang die Sprache verschlug.
»Mutter!«, fauchte Tess. »Bitte!«
Aura war drauf und dran, stehenzubleiben und das Ganze hier und jetzt mit ihrer Schwester auszutragen. Aber wenn es eines gab, das sie der Toten ersparen wollte, dann war es ein offener Streit zwischen ihren Töchtern am Grab.
So ging sie weiter, folgte dem Weg abwärts in die Senke im Zentrum der Insel. »Sie war alt, Sylvette«, sagte sie beherrscht. »Alt, blind und verrückt. Glaubst du denn, dass sie in diesem Zustand gern unsterblich geworden wäre?«
»Hatte sie denn eine Wahl?«
»Das Gilgameschkraut macht Menschen unsterblich, aber nicht wieder jung. Es sorgt dafür, dass manche Verletzungen schneller heilen, aber es kann keinen zerstörten Geist wiederherstellen. Mutters Zustand hätte sich nicht gebessert, er hätte nur bis in alle Ewigkeit angedauert.« Nun wandte Aura sich doch noch zur Seite und starrte Sylvette finster an. »Ist es wirklich das, was du gewollt hättest?«
Ihre Schwester hatte sich die Unterlippe blutig gebissen, vielleicht schon auf der Überfahrt von der Schlossinsel hierher. Aura wurde bewusst, dass sie Sylvette die ganze Zeit über nicht angesehen hatte.
»Hört auf!«, fuhr Tess sie an. »Alle beide! Haltet einfach den Mund, bis das hier vorüber ist – in Ordnung?«
Einen Moment lang sah es aus, als wollte Sylvette ihrer Tochter widersprechen, aber dann schwieg sie und blickte wieder nach vorn. Aura atmete auf und berührte Tess dankbar an der Hand. Doch ihre Nichte zog die Finger zurück, ebenso wütend auf Aura wie auf Sylvette.
Der Sarg wurde vor ihnen den Weg hinabgetragen, von sechs Bediensteten in schwarzen Anzügen. Der Pfarrer aus dem Dorf begleitete den Zug. Aura kannte ihn nicht, vermutete aber, dass er gehört hatte, dass es auf Schloss Institoris nicht allzu gottesfürchtig zuging. Dass er trotzdem gekommen war, um Charlotte den letzten Segen zu geben, war mehr, als Aura von seinem stocksteifen Vorgänger erwartet hätte.
Dem Sarg und den drei Angehörigen folgte ein kurzer Tross aus Hausmädchen und Dienern, alle im dunklen Sonntagsstaat. Uralte Kreuze und Grabsteine erhoben sich auf den felsigen Hängen. Im Herzen der Insel befand sich das runde Familienmausoleum, ein massiver Ziegelbau, eingefasst von einem Säulengang. Es gab keine Fenster und nur eine einzige Tür.
Hinter den Sargträgern traten die drei ins Innere. Die Halle wurde von zwölf steinernen Bahren beherrscht, die sternförmig zur Mitte des Raumes wiesen. Die Kopfenden berührten die Wand, in die man Fächer für die Verstorbenen eingelassen hatte. Manche waren leer, andere mit Steinplatten verschlossen.
Die Mitte des Mausoleums bot genug Platz für alle Trauernden. Der Sarg wurde geöffnet, damit sie einen letzten Blick auf die Tote werfen konnten. Charlotte lag da wie eine Wachspuppe, in einem ihrer Lieblingskleider, bestreut mit einigen der Muscheln, die sie so geliebt hatte.
Tess erbarmte sich und trat als Erste an den Sarg.
Als hätte Sylvette gespürt, dass Auras Panzer aus Distanz und Gleichmut einen Riss bekommen hatte, wandte sie ihr den Kopf zu. »Wo ist dein Sohn, Aura? Wo ist Gian? Warum ist er nicht hier, wenn seine Großmutter bestattet wird?« Als sie bemerkte,
dass Aura einen Moment lang mit sich rang, verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem Lächeln. »Oder gibt es vielleicht einen guten Grund dafür, dass sogar er nicht mehr mit dir spricht?«
Aura fuhr
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