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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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herum, ungeachtet der verstohlenen Blicke, die ihnen die übrigen Trauergäste zuwarfen.
    Aber Sylvette war noch nicht fertig. Jahrelange Unzufriedenheit, Schuldzuweisungen und das Gefühl, ewig benachteiligt gewesen zu sein, brachen sich Bahn. »Hast du dich je für irgendwen außer dir selbst interessiert? Sogar Gillian hat einsehen müssen, dass es letztlich immer nur um dich ging und um deine Wünsche.«
    In Aura stieg etwas auf, das nicht an diesen Ort gehörte und nicht zu diesem Anlass. »Gillian hat hiermit nicht das Geringste zu tun!«
    Vorne am Sarg straffte sich Tess, hatte ihnen aber noch den Rücken zugewandt. Ihre blonden Locken wirkten wie elektrisiert, so sehr schien sie mit einem Mal unter Spannung zu stehen.
    Die Stille war jetzt vollkommen. Niemand schien zu atmen, selbst der Pfarrer starrte wie versteinert die beiden Schwestern an.
    Hitze und Kälte tobten in rascher Folge durch Auras Körper. Die Umgebung schien zu verschwimmen, nur Sylvette stand in aller Klarheit vor ihr, ein Mahnmal aller Selbstvorwürfe, die Aura seit so vielen Jahren verfolgten.
    Die Erste, die wieder das Wort ergreifen wollte, war Tess. Aura schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. Dann ließ sie Sylvette einfach stehen, trat an den Sarg und gab ihrer toten Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.
    Genauso gut hätte Aura selbst dort liegen können. Sie mochte ewig leben, aber etwas in ihr war schon vor Jahren gestorben und dieser Teil von ihr schien sich auszudehnen mit jedem, der
sich von ihr abwandte. Heute hatte sie also auch Sylvette verloren und vielleicht sogar Tess.
    Sie wollte gehen, blieb aber vor dem verwirrten Pfarrer stehen und sagte leise: »Danke, dass Sie gekommen sind. Wir wissen das zu schätzen.«
    Dann verließ sie das Mausoleum und stieg den Hang hinauf, setzte sich auf den Felsrand oberhalb der Gräber und blickte hinaus auf die See.

KAPITEL 9
    Nachts starrte sie noch immer über das Meer, jetzt vom Fenster ihres Zimmers aus. Auras Hände lagen auf dem Rahmen mit der abblätternden weißen Farbe. Böen umspielten ihr Gesicht, bauschten die bodenlangen Vorhänge auf und zerrten an ihr.
    Sie konnte die See selbst hier oben schmecken, zwei Stockwerke über der Steilwand und noch ein ganzes Stück weiter über dem Meeresspiegel. Hatte auch Sylvette manchmal so dagestanden, an einem der wenigen Fenster des Schlosses, die sich öffnen ließen, und darüber nachgedacht, ob das alles hier es wert war, die Einsamkeit noch länger zu ertragen?
    Sie lehnte sich über die Brüstung und atmete in tiefen Zügen die Nachtluft ein. Ihr Blick wanderte zu den schwarzen Brechern am Fuß der Steilküste, glitt über die See und zur Silhouette der Friedhofsinsel, einem schwarzen Streifen vor dem Dunkelgrau der Mondnacht.
    Ein einzelner Stern hatte sich auf die Insel verirrt. Eine Weile lang schwebte er auf dem Felsenkamm, dann bewegte er sich nach rechts.
    Aura beobachtete das Licht, bis es hinter dem Wall verschwunden war. Dann verließ sie ihr Zimmer, eilte menschenleere Korridore und Treppen hinab und betrat die Kapelle an der Ostseite des Schlosses. Sie war seit einer Ewigkeit nicht mehr hier gewesen, aber der Geruch transportierte sie augenblicklich zurück in ihre Kindheit. Nichts hatte sich verändert. Die Holzbänke rechts und links, der Altar am Kopfende, die vier Bleiglasfenster mit Motiven, die nur auf den ersten Blick biblisch erschienen.

    Vor dem Altar klaffte eine quadratische Öffnung im Boden. Steile Treppenstufen führten in die Tiefe. Aura lief zum Speisezimmer und nahm einen schweren Kerzenleuchter von der Anrichte. In einer Schublade fand sie Streichhölzer.
    Wenig später stieg sie im Schein der Kerzenflamme die Stufen hinab, bis sie einen Stollen erreichte, der schnurgerade von der Schlossinsel fortführte. Sie kannte diesen Gang, hatte ihn früher einige Male benutzt, aber die Vorstellung, sich unterhalb des Meeresbodens zu bewegen, missfiel ihr heute ebenso wie damals.
    Der Gang war feucht und muffig, alle paar Meter wurde er von verpilzten Balken gestützt. Als Unsterbliche konnte sie nicht ertrinken, das wusste sie aus Erfahrung, aber falls das Holz nachgab und sie von der Oberwelt abgeschnitten wurde, konnte sie tagelang hier unten begraben bleiben und dennoch weiterleben. Allein in der Dunkelheit.
    Sie beschleunigte ihre Schritte, hatte Mühe, auf dem glitschigen Boden nicht den Halt zu verlieren, und sah schließlich ein, dass es keinen Zweck hatte zu rennen, wenn sie sich dafür

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