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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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nebeneinanderliegenden Dachgauben. Anders als alle übrigen Scheiben im Schloss waren diese beiden nicht mit Bildern verziert, sondern zeigten Reihen aus gläsernen Buchstaben.
    Zwischen den Gauben stand ein Schreibtisch, leer bis auf eine Handvoll Bücher: Einführungen in die Alchimie und ihre Historie. Die Dienerschaft hatte strikte Order, die Dachböden des Schlosses nicht zu betreten. Dennoch war der Tisch staubfrei und aufgeräumt.
    Nestor hatte hier einst seine Studien betrieben, später Aura selbst. Das Holz war voller Tintenkleckse und Kratzer; vor allem aber waren Zeichen, Buchstaben und verschlungene Furchen in die Oberfläche geritzt worden. Abkürzungen und unverständliche Inschriften aus vielen Jahrzehnten. Manche stammten von Aura. Beim Blättern und Lesen hatte sie gedankenverloren mit Stiften, Brieföffnern und was ihr sonst zwischen die Finger geriet auf dem Holz herumgeschabt. Ihr Vater hatte es vor ihr genauso gemacht.
    »Hier«, sagte Aura, »das ist es.«
    Tess trat neben sie und nickte.

    Das gleiche Zeichen wie im Uhrkasten, kaum größer als eine Münze. Die Linien und Bögen waren so breit wie Streichhölzer, etwa zwei Millimeter tief und nachgedunkelt.
    Das Symbol war nur eines unter zahllosen anderen. Aura hatte Jahre an diesem Platz verbracht, neue Zeichnungen und Worte hinzugefügt, ältere erweitert oder unkenntlich gemacht; fast alle waren Kritzeleien ohne tiefere Bedeutung. Sie hatte immer angenommen, dass auch ihr Vater sich bei den meisten nichts gedacht hatte. Doch aus irgendeinem Grund musste das Symbol aus der Uhr ihn beschäftigt haben, als er allein hier oben gesessen hatte, zurückgezogen von der Welt und seiner Familie, versunken in Gedankengänge so kalt und gewissenlos wie die eines Reptils.
    »Könnte alles Mögliche sein.« Tess berührte das Zeichen mit der Fingerspitze. »Eine Rune, vielleicht.«
    »Daran hab ich auch gedacht. Aber soweit ich weiß, hat er sich nie mit nordischer Kalligraphie beschäftigt.«
    »Irgendwas Okkultes?«
    Aura schüttelte den Kopf. »Davon hat er erst recht nichts gehalten. Er hat immer geglaubt, dass selbst die Unsterblichkeit wissenschaftlich nachvollziehbar sein müsste. Das war der Grund, warum er sich so lange dagegen gewehrt hat, die Morde an seinen Töchtern wieder aufzunehmen – und nicht etwa, weil er plötzlich ein besserer Mensch geworden wäre.« Sie rümpfte die Nase. »Es war ihm zuwider, sein Leben weiterhin auf eine Weise zu verlängern, die mehr nach Zauberei aussah als nach echter Wissenschaft. Dass Okkultismus und Alchimie immer wieder in einen Topf geworfen werden, hat ihn wütend gemacht. Er scheint das ziemlich persönlich genommen zu haben.«
    Aura nahm einen Bleistift aus einer Schublade, fand ein leeres Stück Papier und fertigte einen Abrieb des eingeschnitzten Symbols an. Später wollte sie auch das Zeichen aus der Uhr kopieren, um beide miteinander zu vergleichen.

    Nachdenklich löste sie sich vom Schreibtisch und trat vor eines der Buchstabenfenster. SATOR AREPO TENET OPERA ROTAS stand dort in fünf Zeilen untereinander geschrieben, ein anagrammatisches Quadrat, lesbar aus allen Richtungen. Ein anderes war in dem zweiten Fenster abgebildet: SATAN ADAMA TABAT AMADA NATAS. Tageslicht projizierte verzerrte Abbilder der Lettern auf ihren Körper.
    Die Satorformel, der lateinische Satz im linken Fenster, stammte aus der Symbolsprache der antiken Hermetiker. Der Sämann Arepo hält mit Mühen die Räder. Gemeint war das Ringen des Alchimisten um das aurum potabile , das Große Werk, die Suche nach dem Stein der Weisen.
    Dagegen ergaben die Worte im zweiten Fenster in keiner bekannten Sprache einen Sinn. Auch sie bildeten immer wieder denselben Satz, ganz gleich, ob man das Buchstabenquadrat von links nach rechts, von oben nach unten oder umgekehrt las. Wie ein Zauberspruch, eine archaische Beschwörung. Nur eines der Wörter besaß eine erkennbare Bedeutung. Satan.
    Standen demnach in diesen Fenstern Alchimie und Okkultismus gleichwertig nebeneinander? Warum hatte Nestor sie anfertigen und einbauen lassen, wenn ihm doch diese Verbindung derart zuwider war? Dass sein Schreibtisch sich ausgerechnet in der Mitte zwischen ihnen befand, war sicher kein Zufall. Hatte er seinen eigenen Überzeugungen misstraut, hin und her gerissen zwischen den Niederlagen seiner wissenschaftlichen Bemühungen und der Verlockung, dem Glauben an das Übernatürliche nachzugeben?
    »Aura!« Tess nickte zum Eingang hinüber.
    Dort stand der

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