Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
du in mir siehst? Ein Opfer?«
»Das hab ich nicht gemeint. Aber du bist nicht mehr verreist, hast sie trotz allem nie allein gelassen. Was sie Tess und Gian damals angetan hat ... Du hast das gewusst und sie trotzdem nicht im Stich gelassen. Ich hätte ihr danach am liebsten den Hals umgedreht, und es hätte keine Rolle gespielt, dass sie meine Mutter war.«
»Ich hab sie dafür gehasst.« Sylvettes Eingeständnis kam überraschend, auch wenn Aura damit hätte rechnen können. »Dafür und auch für andere Dinge, die sie später getan hat. Es fällt schwer, jemanden gern zu haben, der dich tagein, tagaus schikaniert, belügt und nach Wegen sucht, dir das Leben zur Hölle zu machen.«
Aura wollte etwas sagen, aber Sylvette fuhr fort: »Nur — geopfert habe ich mich nicht. Ich hätte fortgehen können, aber das wollte ich nicht. Ich bin nicht wie du, Aura ... Ich möchte, dass du verstehst, dass es ganz allein meine Entscheidung war, im Schloss zu bleiben.«
»Das weiß ich.«
»Niemand hat mich hier festgehalten. Nicht Mutter, nicht irgendeine ominöse Verantwortung, gar nichts. Ich hab es so gewollt. Also sieh bitte kein Opfer in mir.«
Noch während Aura die Worte aussprach, hätte sie sich am liebsten dafür auf die Zunge gebissen: »Hast du nie etwas vermisst?«
In Sylvettes Lächeln lag Nachsicht. »Was hätte ich vermissen sollen?«
»Ich weiß nicht. Jemanden?«
»So wie du?«
»Ja«, sagte Aura mit einem Seufzen.
Sylvette stieß ein helles Lachen aus und mit einem Mal sah
Aura sie wieder als fröhliches Kind über die Treppengeländer von Schloss Institoris turnen, ein kleines, zartgliedriges Mädchen, dem die Hölle erst noch bevorstand. »Aber, Aura«, sagte sie mit blitzenden Augen, »es gibt jemanden! Mach dir also keine Sorgen um mich.«
»Oh. Das hab ich nicht gewusst.«
Und wie auch?, schien Sylvettes Blick zu sagen, aber Aura fragte nicht weiter. Das Liebesleben ihrer Schwester ging sie nichts an. Ja, sie war neugierig, und womöglich würde sie mit Tess darüber reden, aber das hier war nicht der Zeitpunkt, um Sylvettes kleine Geheimnisse zu ergründen. Jemand aus dem Dorf, vielleicht. Groß war die Auswahl hier draußen nicht.
Aura löste sich von der Bahre und ging zur offenen Tür der Gruft. Dort blieb sie stehen und schaute in die klare Nacht hinaus. Das Sternenlicht hatte eine silbrige Membran über die windschiefen Grabkreuze gebreitet.
In ihrem Rücken hörte sie Sylvette flüstern, aber als sie über die Schulter blickte, sprach ihre Schwester gar nicht mit ihr. Sie hatte sich auf der Kante der Steinbahre niedergelassen, ließ die Beine baumeln wie ein Kind und beugte sich leicht zur Seite, der Grabplatte in der Wand entgegen. Ihre Lippen bewegten sich, aber bei Aura kam nur ein verstohlenes Wispern an.
Aura wollte sich gerade wegdrehen, als Sylvette ihr das Gesicht zuwandte, ein bleiches Oval im Kerzenschein. »Als ich gesagt habe, du hättest sie retten können ... das war nicht so gemeint.«
»Ich weiß.«
»Ich hab überhaupt nicht gewollt, dass du sie rettest.« Sylvette strich sich gedankenverloren das blonde Haar zurück. Aura hatte immer mehr Mühe, eine erwachsene Frau in ihr zu sehen. »In Wahrheit bin ich froh, dass sie tot ist. Ich bin heute Nacht hergekommen, um ihr das zu sagen.«
»Ich kann dich allein lassen, wenn du möchtest.«
»Nein, bleib ruhig.«
Es war Aura unangenehm, mitanhören zu müssen, was Sylvette mit ihrer Mutter auszumachen hatte. Einmal mehr wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr hierhergehörte.
»Ich glaube, sie wusste es.« Sylvette hatte ihr Gesicht wieder dem Grab zugewandt, aber sie sprach noch immer mit Aura. »Ich hab es in ihren Augen gesehen, in dem Moment, als sie starb.«
»Du bist bei ihr gewesen?«
»O ja.«
Aura wollte nicht weiterfragen, auch wenn ihr die Worte auf den Lippen brannten. Wie war Charlotte gestorben? Unter Schmerzen? War sie eingeschlafen und nicht mehr erwacht? Zumindest das ließ sich ausschließen, wenn Sylvette währenddessen in ihre Augen –
Oh.
»Hasst du mich dafür?«, fragte ihre Schwester.
War Aura so begriffsstutzig gewesen, weil sie nicht hatte hören wollen , was Sylvette ihr zu sagen versuchte?
Nach außen hin blieb sie ruhig. »Weiß noch irgendwer davon? Tess?«
»Ich glaube nicht.«
»Die Diener? Oder ein Arzt?«
»Der war erst am nächsten Tag hier. Ich hab ihre Augen geschlossen und sie zurechtgelegt, sodass sie ganz friedlich ausgesehen hat.«
»Wie ... ich
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