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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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immer eine erotische Anziehung auf andere ausgeübt, sie mit seiner zweigeschlechtlichen Attraktivität betört. Jetzt aber war dieses Talent außer Rand und Band geraten und er fragte sich, ob das der Grund war, weshalb man ihn nackt auf diesem kreisenden Stuhl sitzen ließ. Seine Peiniger waren um ihn, starrten ihn an, geblendet von seiner Ausstrahlung, unfähig, die Blicke von ihm loszureißen. Gefangene ihres Gefangenen.
    Die Vorstellung verlieh ihm ein gewisses Triumphgefühl, aber es war nicht von Dauer. Er machte sich etwas vor, wenn er annahm, er hätte sie in der Hand. Falls sie ihn nur festhielten, weil sie nicht anders konnten, war er verloren. Wenn sie berauscht waren von dem, was sie in ihm sahen, wenn sein Charisma ihre Motive überstrahlte, dann hafteten er und sie untrennbar aneinander. Dann saßen auf beiden Seiten der unsichtbaren Gitterstäbe Menschen, die trotz all ihrer Macht über den anderen machtlos waren. Sie bestimmten Gillians Schicksal, zugleich hielt er sie fest in seinem Bann.
    Wann hatten sie ihm zuletzt das Gas verabreicht? Die Zeit existierte nicht mehr in der Finsternis hinter seiner Augenbinde. Er spürte wieder die Schnallen an seinem Hinterkopf, enges Leder an den Schläfen. Sogar die Ringe, die seine Arme und Beine hielten, konnte er fühlen.
    Dass er sich nicht länger drehte, bemerkte er erst nach einer
Weile. Der Schwindel blieb, die Übelkeit wurde heftiger. War das nur eine Nachwirkung der Drehung? Es gab eine andere Möglichkeit, aber sie wollte ihm nicht einfallen.
    Die Hände näherten sich lautlos wie immer. Sie waren mit einem Mal da, strichen über die Muskulatur seiner Oberarme und seines Bauches, berührten seine Brust und sein Glied. Wanderten an seinen Oberschenkeln entlang, innen wie außen, kehrten zurück zu seinem Gesicht, streichelten seine Wangen. Er erwartete, dass sie ihm das Mundstück überstülpen würden, aber das Gas ließ auf sich warten. Stattdessen fuhren die bebenden Fingerspitzen erneut an seinem Hals hinab, entlang seiner Schlüsselbeine, von den Schultern zu den Wölbungen seiner Brüste.
    Er konnte nicht zurückzucken, so fest war er an den Stuhl geschnallt. Er versuchte zu sprechen, aber das tagelange Schreien hatte ihm die Stimme geraubt. Kaum mehr als ein Röcheln kam über seine Lippen. Er hatte wieder das Gefühl, sich übergeben zu müssen, und diesmal erinnerte er sich, warum. Es war das Alter. Wer immer da bei ihm war, ganz nah, wer immer ihn befühlte und befingerte, war alt.
    Eine Weile verging. Alles dauerte viel länger als sonst. Der Andere hatte sich kaum in der Gewalt und atmete schwer, während er Gillian berührte. Männeratmen. Warum verabreichte er ihm nicht endlich das Gas? Gillian sehnte sich nach der Schwärze, nach der Linderung durch die Leere.
    Seine Kehle war wie zugeschnürt, seine Eingeweide pumpten. Alles in ihm revoltierte, die Übelkeit erstickte ihn fast.
    Die Erkenntnis war wie ein Déjà-vu: Abscheu vor dem Alter ging mit der Unsterblichkeit einher. Er war unsterblich. Natürlich. Wahrscheinlich hatte er sich schon viele Male während seiner Gefangenschaft daran erinnert und es gleich wieder vergessen. Er war weit davon entfernt, aus diesem Kreislauf auszubrechen.

    Zugleich spürte er stärker denn je, dass er sein Mann-Frau-Sein nicht im Griff hatte. Er verkörperte jetzt beide Geschlechter, seine Ausstrahlung glühte wie eine Korona.
    Dann hörte er eine Stimme.
    Jemand sprach ihn an.

KAPITEL 8
    Manchmal träumte Aura von Gillian.
    Früher war das öfter geschehen, vor allem in den ersten Jahren, nachdem er sie verlassen hatte. Heute passierte es nur noch selten und dann schämte sie sich ein wenig dafür, dass sie ihn nicht loslassen konnte, dass ein Teil von ihr – kein kleiner – sich noch immer nach ihm sehnte.
    Sie wünschte sich, dass er bei ihr wäre, gerade heute, während sie ihre Mutter zu Grabe trugen. Es wäre gut gewesen, mit jemandem über ihre komplizierten Gefühle für Charlotte zu reden, und es wurde immer offensichtlicher, dass dieser Jemand nicht ihre Schwester sein konnte.
    Sylvette ging neben ihr, während sich der kurze Trauerzug von der Anlegestelle der Friedhofsinsel den Felswall hinauf bewegte. Sie hatten seit Auras Rückkehr nur wenige Worte miteinander gewechselt, und nicht einmal den Angestellten konnte entgehen, dass das Verhältnis ihrer beiden Dienstherrinnen erkaltet war. Aura gab sich keinen Illusionen darüber hin, wem die Sympathien der Leute galten. Sylvette war

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