Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
Pelikan, das weiße Gefieder gesträubt, den breiten Schnabel vorgereckt. Er verharrte mitten im Türrahmen, als hielte ihn etwas davon ab, die Bibliothek zu betreten.
Aura löste sich vom Fenster. Reglos blickte ihr der Vogel entgegen. Wenige Meter vor ihm blieb sie stehen, ging in die Hocke und streckte lockend eine Hand aus.
Da kam er watschelnd heran und stupste mit dem Schnabel an ihre Finger. Er gurrte leise, als sie einander erkannten.
KAPITEL 7
Gillian drehte und drehte und drehte sich.
Seit Tagen schon, seit Wochen.
In der Finsternis gab es keine Zeit, keine Anhaltspunkte für seine Sinne. Nur das Gefühl seiner eigenen Bewegung in der Schwärze, wie ein Sturz in einen bodenlosen Abgrund. So muss es sein, dachte er, wenn von einem Augenblick zum nächsten keine Schwerkraft mehr existiert und man hinausfällt in den leeren Schlund zwischen den Sternen.
Dennoch – die Phasen, in denen er fast so etwas wie klare Gedanken fassen konnte, häuften sich. Dann wurde er aus seiner Selbstverneinung, der Vernebelung seines Geistes gerissen, ohne zu wissen, warum, für wie lange und ob es eine Möglichkeit gab, diesen Zustand bewusst herbeizuführen. Ihm war, als presste man ihn mit dem Kopf unter Wasser, um ihn dann und wann zurückzureißen, damit er Luft schnappen konnte. Nur dass er nie wusste, ob man ihm einen ganzen Atemzug gewährte und ob es vielleicht sein letzter sein würde.
In einem dieser Augenblicke fiel ihm wieder ein, dass er einmal Mann und Frau zugleich gewesen war, ein Zwittergeschöpf, eine hermaphroditische Züchtung der Alchimie. Und er wusste, dass er seine Zweigeschlechtlichkeit ausnutzen konnte, um für andere Menschen das zu sein, was sie sehen wollten. Für gewöhnlich war er ein Mann, sah sich selbst als einer, aber es gab Momente, in denen er zur Frau wurde und sich wohl dabei fühlte. Es war keine körperliche Verwandlung, keine Verformung seiner Physis – sein Fleisch blieb stets beides, Mann und Frau zugleich. Vielmehr veränderte sich die Wahrnehmung seines
Gegenübers. Es genügte eine Kleinigkeit, vielleicht ein Kleidungsstück, um ein anderes Geschlecht zu suggerieren. Trug er einen Frack, wäre niemand auf den Gedanken gekommen, eine Frau in ihm zu sehen. Ein Kleid hingegen ließ keinerlei Zweifel an seiner Weiblichkeit. In seinem früheren Leben, vor den Jahren im Templum Novum, war ihm das oft nützlich gewesen. Als Auftragsmörder hatte er seine Identitäten schneller gewechselt, als die Behörden hatten Fahndungen ausschreiben können.
Jetzt aber geschah etwas mit ihm, das er nicht beeinflussen konnte. Es schien ihm, als wechselte er sein Geschlecht im Sekundentakt, war mal Mann, mal Frau. Und obgleich die Veränderungen nicht körperlicher Natur waren – niemand zog und zerrte an seiner Haut, formte seine Konturen um, verschob sein Gesicht –, hatte es Einfluss auf sein Erscheinungsbild. Als würden alle Masken, die er jemals getragen hatte, in blitzschneller Folge über seine Züge flackern, sichtbar nur für andere, spürbar auch für ihn. Es trug dazu bei, dass sein wahres Ich zurücktrat hinter die Illusionen, mit denen er sich ein Leben lang umgeben hatte.
Gillian, der Mann. Gillian, die Frau. Sieh mich an und ich weiß, was du in mir sehen willst. Das war früher gewesen, als er noch Herr seiner selbst gewesen war.
Nun hatte er die Kontrolle darüber verloren. Es war wie Zuckungen während eines epileptischen Anfalls. Er saß festgeschnallt auf diesem Stuhl, der sich endlos drehte. Und manchmal, nur selten, hielt die Bewegung inne. Dann waren da Hände, die ihn betasteten und erforschten. Ihm etwas über Mund und Nase stülpten. Sie ließen ihn ein Gas einatmen, das ihm Willen und Erinnerung raubte, ihn vergessen ließ, wer und wo er war. Dann stürzte er abermals kreisend in den Abgrund, bis die Wirkung irgendwann nachließ, die Hände zurückkehrten und mit ihnen das Gas. Nicht nur der Stuhl, auf dem er saß, drehte sich.
Seine ganze Existenz war eine Spirale, zirkelte abwärts in die Dunkelheit.
Übergeben konnte er sich schon lange nicht mehr, sein Hals war ausgetrocknet. Anfangs, als er sich unablässig erbrochen hatte, war er regelmäßig mit Wasser abgespritzt worden, ein breiter, schmerzhafter Strahl auf seinem Körper.
Lange Zeit über war ihm nicht klar gewesen, ob er Kleidung trug oder nicht. Mittlerweile war er sicher, dass sie ihn ausgezogen hatten. Vielleicht aus hygienischen Gründen, vielleicht auch, um ihn zu betasten. Gillian hatte
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