Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
auf halber Strecke die Beine brach. Widerwillig wurde sie langsamer.
Mittlerweile befand sie sich weit draußen unter dem Meeresboden. Sie hatte ihre Schritte nicht gezählt – es waren wohl einige Dutzend gewesen –, als der Gang allmählich wieder aufwärts führte, erst sachte, dann ein wenig steiler. Der Stollen wurde breiter. Die Felsdecke endete und wurde zu gepresstem Erdreich, trockener als das Gestein zuvor. Aura war jetzt unter der Friedhofsinsel.
Mit den Jahren hatten sich die Erdschichten verschoben und vermischt. Halbzerfallene Sargböden ragten zwischen Wurzelenden aus der Stollendecke und mit ihnen waren die Toten in die Tiefe gewandert. Ihre Überreste ließen sich im flackernden Kerzenschein kaum von anderen knorrigen Formen an der Decke unterscheiden. Zwischen knöchernen Unterschenkeln und
mumifizierten Händen wehten Schleier aus Spinnweben. Rippenbögen krallten sich wie Insektenbeine aus dem Erdreich und mehr als einmal starrten Aura von oben Augenhöhlen an, leere Gruben in beinernen Gesichtern.
Gebückt hastete sie darunter hindurch, wischte sich Spinnenfäden aus Haar und Gesicht und erreichte schließlich Stufen, die steil nach oben führten. An ihrem Ende befand sich eine offene Falltür. Darüber war es stockdunkel.
Vorsichtig reckte sie erst den Kopf aus der Öffnung, hob dann die Kerze hoch und erleuchtete das Familienmausoleum. Die Falltür befand sich im Zentrum der runden Halle. Hinter den zwölf Steinbahren nisteten tiefe Schatten. Niemand war zu sehen. Charlottes Sarg war nach der Trauerfeier in ein Wandgrab geschoben worden.
Die Tür des Gruftgebäudes stand offen. Draußen heulte der Nachtwind über das steinige Gräberfeld.
Aura trat an die Bahre, auf der vor wenigen Stunden Charlottes Leichnam gelegen hatte, und stellte den Kerzenleuchter darauf ab. Die Grabplatte in der Wand war noch unbeschriftet. Weshalb sie ihre Hand darauflegte, wusste sie selbst nicht so recht. Aber für einen Moment spürte sie eine größere Nähe zu ihrer Mutter als während der Jahrzehnte zuvor.
Von draußen erklangen Schritte auf losem Geröll. Als Aura sich umwandte, stand ihre Schwester in der Tür. Sie hielt eine Öllampe in der Hand, ihr weißes Kleid wurde von zugigen Böen aufgebauscht.
»Ich wusste, dass du noch mal herkommen würdest«, sagte Sylvette. »Nicht unbedingt heute Nacht, aber bevor du wieder abreist.«
»Sylvette, ich –«
»Nein.« Ihre Schwester schüttelte den Kopf und kam näher. »Ich bin es leid, mich zu streiten. Hören wir einfach auf damit. Was ich gesagt habe, war dumm und verletzend. Ich hab dir
wehgetan, und das wollte ich nicht.« Sie stellte die Lampe zu Auras Kerze auf die Bahre. »Das heißt, heute morgen wollte ich es schon. Es wäre dumm, das zu leugnen, und du weißt es ohnehin besser. Aber jetzt tut es mir leid.«
Aura musterte sie einen Moment lang, erteilte ihr aber nicht die Absolution, auf die sie vielleicht hoffte. »Ich hab ein Licht gesehen, oben auf den Felsen.«
»Und du hast gleich gewusst, dass nur ich das sein kann.«
»So viele kommen nicht infrage, oder?«
Sylvette trat auf die andere Seite der Steinbahre und deutete auf die Grabplatte in der Wand. »Glaubst du, sie hätte hier enden wollen?«
»Ich denke, sie hat damit gerechnet. Und es war ihr ganz recht so.«
Sylvette sah sehr blass aus, wie ein Spuk inmitten dieser Umgebung. »Wegen Friedrich?« Das Mausoleum hatte Charlotte und ihrem Liebhaber einst als geheimes Liebesnest gedient. »Ich glaube, sie ahnte, dass Christopher ihn hier getötet hat. Hast du je mit ihr darüber gesprochen?«
»Als Christopher mir davon erzählt hat, lag der Mord an Friedrich schon über sieben Jahre zurück. Und Mutters Zustand... Von uns allen weißt du am besten, wie sie war.« Aura gab sich einen Ruck, ergriff über die Bahre hinweg Sylvettes Rechte und umschloss sie mit beiden Händen. »Hör zu, mir ist klar, dass es eigentlich viel zu spät dafür ist und dass es im Nachhinein schrecklich einfach ist, zuzugeben, dass ich Fehler gemacht habe. Aber ich weiß, was du hier geleistet hast, und ich möchte nicht, dass du glaubst, dass ich ...« Sie brach ab und wäre dem Blick ihrer Schwester am liebsten ausgewichen. »Du sollst nicht denken, dass ich ein falsches Bild von dir habe.«
»Was für ein Bild hast du denn von mir?«
»Du hast so vieles dafür —«
»Geopfert?« Sylvette ließ ihre Hand noch einen Moment lang in Auras ruhen, dann zog sie sie langsam zurück. »Ist es das, was
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