Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
hielt.
Noch ein Schrei, nicht länger ihr eigener.
Sie stolperte zurück, stieß gegen die Fensterbank und mit dem Hinterkopf auf Glas. Die Gestalt hinter dem Licht verblasste mit einem Großteil des Sonnenscheins, dem Tess mit ihrem Körper den Weg ins Zimmer versperrte.
Vor ihr stand Sylvette, den Oberkörper vorgebeugt, eine Hand aufs Gesicht gepresst. Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor, während ihre Augen verständnislos Tess und die Muschel mit der gezackten Bruchkante ansahen.
»O Gott.« Tess schleuderte die Muschel von sich und wollte auf ihre Mutter zustürzen, als hinter Sylvette eine zweite Frau den Raum betrat, erst Tess ansah und dann begriff, was geschehen war.
»Sylvette?« Die Frau eilte heran und verstellte mit ihrem Rücken Tess’ Blick auf ihre Mutter. »Was haben Sie getan?«
Tess drängte die Fremde beiseite und zog sanft Sylvettes Hand von der frischen Wunde in ihrer Wange.
»Verzeih mir«, stammelte sie. »Ich hab das nicht gewollt. Wirklich, ich wusste doch nicht —«
»Was tust du hier?«, fragte Sylvette mit schmerzverzerrter Stimme.
Der Schnitt war lang und klaffend tief. Wäre der Rand der verdammten Muschel noch schärfer gewesen, hätte sie wahrscheinlich weniger Schaden angerichtet. So würde es eine Narbe
geben, erst recht, wenn die Verletzung nicht schleunigst genäht wurde.
»Du musst zum Arzt!« Die Tapetenwände des Zimmers rückten heran und die Welt wurde kleiner, als sich alles auf Tess und ihre Mutter fixierte.
Und auf die fremde Frau mit dem dunkelroten Haar. Mit ihren langen Armen und Beinen erinnerte sie Tess an eine Gottesanbeterin mit brennendem Schädel.
»Es geht schon«, sagte Sylvette.
»Nein«, widersprach die Frau mit einem osteuropäischen Akzent, den Tess nicht zuordnen konnte. »Deine Tochter hat recht. Die Wunde muss genäht werden.«
»Wo ist Klara?«, fragte Tess. »Als Gian mal eine Platzwunde hatte, da hat sie —«
»Sie ist nicht mehr hier«, fiel Sylvette ihr ins Wort. Klara war Hausmädchen im Schloss gewesen, solange Tess zurückdenken konnte. »Ich hab sie entlassen. Sie und die meisten anderen.«
»Was?« Die leeren Korridore schienen den Sauerstoff aus dem Zimmer zu saugen wie ein Vakuum. Tess schüttelte verständnislos den Kopf, sah die Fremde an, hundert Vorwürfe auf den Lippen. Aber das konnte warten.
Blut tropfte von Sylvettes Gesicht und Fingern auf den Boden. Rote Perlen zerplatzten auf dem Parkett zu kleinen Sternen.
»Ich kümmere mich darum«, sagte die Frau. »Ich weiß, wie man eine Wunde näht.«
Tess wollte sie wütend beiseite stoßen und einen Arm um ihre Mutter legen, doch Sylvette hob abwehrend eine Hand und ließ zu, dass die Fremde ihr ein paar blutverklebte Haarsträhnen aus dem Gesicht strich.
»Wer, zum Teufel –«, entfuhr es Tess.
»Ich bin Axelle«, sagte die Frau. »Eine Freundin Ihrer Mutter.«
Tess wusste nichts von irgendwelchen Freundinnen. Stattdessen hatte Sylvette stets ein enges Verhältnis zu den Bediensteten gehabt, zur Köchin und den Hausmädchen. Zu Klara. Die sie entlassen hatte.
Das alles war ein verdammter Albtraum.
»Schön ... Axelle«, sagte Tess so kühl sie konnte. »Aber ich bin ihre Tochter, und wenn Sie uns entschuldigen würden —«
»Nein«, sagte Sylvette. »Axelle soll die Wunde nähen.«
Am liebsten hätte Tess sie trotz allem an den Schultern gepackt und durchgeschüttelt.
Axelle nickte langsam. »Das wäre wirklich das Beste.«
»Ich werde jetzt einen Arzt für meine Mutter rufen«, widersprach Tess, »bevor sie noch mehr Blut verliert und diese Wunde sich nicht mehr nähen lässt.«
»In der Tat«, sagte Axelle freundlich, »diese Wunde muss schleunigst versorgt werden. Und nicht erst in einer Stunde oder wie lange auch immer es dauern mag, bis der Arzt aus dem Dorf hier aufkreuzt.«
»Gehen wir in mein Zimmer«, sagte Sylvette. Die Verletzung musste scheußlich wehtun. »Nadel und Faden hab ich drüben.«
»Hier geht’s doch nicht um einen Scheißknopf!«, entfuhr es Tess.
»Ich weiß, dass Sie sich Sorgen machen«, sagte Axelle. »Das ist verständlich. Aber vertrauen Sie mir. Ich würde niemals zulassen, dass Ihrer Mutter ein Leid widerfährt.«
Und wo warst du, als ich ihr das Gesicht in Streifen geschnitten habe?, dachte Tess und kämpfte gegen Tränen an.
»Es ... ist gut«, brachte Sylvette hervor. »Tess, alles kommt wieder in Ordnung ... Reg dich nicht so auf wegen ein bisschen Blut.«
Axelle legte einen Arm um sie und führte sie
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