Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
Sie uns da hineingeritten haben.«
»Es ... mir leid ...«
Gillian nahm das Buch von der Brust des Bibliothekars und schob es auf das Lesepult. Dabei gab er acht, mit dem Blut nicht die wertvolle Handschrift zu besudeln, die dort lag.
Er musste an die Gebete denken, die er als Großmeister des Templum Novum gesprochen hatte, ohne dabei etwas zu empfinden. Für ihn waren sie wie eine Meditation gewesen, er hatte sich regelrecht in Trance gebetet. Danach hatte er sich ruhig und ausgeglichen gefühlt, war ganz bei sich selbst.
Einige davon kamen ihm jetzt in den Sinn. Stumm formten seine Lippen die lateinischen Worte, während er Ponti in die Augen sah. Der Bibliothekar schien sie ihm vom Mund abzulesen, denn nun bewegten sich auch seine Lippen, und nach einer Weile kamen Silben heraus, als liehe er Gillians Gedanken seine Stimme. Es war ein Augenblick großer Nähe, fast Intimität. Nur eine Handbreit trennte ihre Gesichter voneinander, während Gillian lautlos und Ponti im Flüsterton betete. Irgendwann schloss der Bibliothekar die Augen, sprach aber weiter, in immer
festerem Tonfall, so als unterdrückte er damit den Schmerz und die Furcht vor seinem nahen Tod.
Gillian erhob sich und wischte sich an einem der Vorhänge die Hände sauber. Dann ging er.
Pontis monotones Flüstern folgte ihm bis zur Tür und hinaus ins Treppenhaus.
KAPITEL 28
»Mutter?«
Tess ließ ihre Reisetasche auf den Steinboden der Eingangshalle fallen. Ihr Atem rasselte, die wenigen Meter von der Anlegestelle bis zum Schloss hatten sie mehr angestrengt, als sie wahrhaben wollte. Mittlerweile fühlte es sich an, als wollte das Kind in ihrem Bauch überhaupt nicht mehr still halten, so als liefe es dort drinnen jeden Schritt mit, den sie selbst machte.
»Mutter?« Sie horchte ins Innere von Schloss Institoris und drückte den Flügel des Portals hinter sich zu. »Ist irgendwer da?«
Für gewöhnlich bemerkte die Dienerschaft, wenn das Boot vom Festland zur Schlossinsel übersetzte. Die Angestellten informierten dann sogleich die Herrschaft. Tess konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter sie einmal nicht vor dem Schloss oder in der Eingangshalle erwartet hatte. Gut, da hatte Sylvette auch gewusst, dass ihre Tochter auf dem Weg nach Hause war. Überraschungsbesuche wie diesen gab es so gut wie nie.
Tess presste seufzend eine Hand unter ihren Bauch und bückte sich nach der Tasche. Sie wollte nicht nutzlos herumstehen und darauf warten, dass ihr jemand das Gepäck aufs Zimmer brachte.
Aber sie kam nicht umhin, sich einzugestehen, dass die Atembeschwerden ihr immer mehr zu schaffen machten. Sie war bereits auf alles Mögliche untersucht worden, eine eindeutige Diagnose gab es nicht. Tess hatte es auf die Schwangerschaft geschoben, doch ihr Arzt meinte, dass sie möglicherweise die Großstadtluft nicht vertrage. So etwas käme vor; der Gestank
der Automobile, von denen es Tag für Tag mehr gab, dann die vielen Menschen. Sie selbst hielt das für ausgemachten Blödsinn, aber Tatsache war, dass sie sich bei ihrem letzten Besuch im Schloss deutlich gesünder gefühlt hatte als in der Stadt. Und als sie vor einigen Tagen nach Berlin zurückgekehrt war, hatte es sie schlimmer erwischt als jemals zuvor. Fast eine Woche lang hatte sie durchgehalten und gehofft, es würde von selbst wieder besser werden. Aber sie trug nun einmal nicht nur die Verantwortung für sich allein, und wenn die verdammte Luft an der Ostsee so viel gesünder war, dann würde sie in den sauren Apfel beißen, ihr Versöhnungsgesicht aufsetzen und hierbleiben, bis die Sache ausgestanden war.
Maximilian, ihr Verlobter, arbeitete bei der Berliner Zeitung und konnte nicht wochenlang ans Meer verschwinden, aber es war ausgemacht, dass sie ihn anrufen würde, sobald die Geburt bevorstand, und er dann auf der Stelle herkäme. Natürlich traute er – ganz der Städter – dem Dorfarzt und der Hebamme nicht, aber Sylvette gab nichts auf seine Befürchtungen und fand sie noch dazu recht überheblich. Sylvette, Aura und auch Gian waren im Schloss zur Welt gekommen – warum also nicht die nächste Generation der Institoris?
Ein letztes Mal rief sie »Hallo?«, dann machte sie sich mit einem Schulterzucken auf den Weg in den ersten Stock. Unterwegs zu ihrem Zimmer begegnete sie niemandem, wuchtete schließlich die Tasche aufs Bett und musste sich abstützen, bis ein Anflug von Schwindel nachgelassen hatte.
Ihre Mutter konnte überall sein, angefangen vom Büro, das sie sich
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