Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
aus dem Zimmer. Tess ging wie eine Schlafwandlerin hinterher und fühlte sich überflüssig und ausgeschlossen.
Drüben angekommen, gestikulierte Sylvette in Richtung einer Kommode zwischen den beiden Fenstern. »In der untersten Schublade.«
Als Tess sich bückte, um das Schubfach aufzuziehen und nach dem Nähzeug zu suchen, fühlte es sich an, als würde sie nie wieder aus eigener Kraft hochkommen. Sie schaffte es trotzdem und trug das Kästchen hinüber zum Bett. Ihre Mutter saß auf der Kante und presste ein Handtuch auf ihre Wange.
»Wir brauchen Alkohol«, sagte Axelle. »Je hochprozentiger, desto besser.«
»In der Küche.« Tess wollte sich auf den Weg machen, aber die rothaarige Frau kam ihr zuvor und lief los.
»Ich mach das schon«, sagte sie. »Bleiben Sie bei Sylvette.« Damit verschwand sie draußen auf dem Gang.
»Wer ist sie?«, flüsterte Tess, als sie neben Sylvette auf dem Bett saß und Axelles Schritte tief im Schloss verklangen.
»Eine Freundin«, murmelte ihre Mutter.
Nun gut. Es gab Wichtigeres. »Mir tut das so unglaublich leid.« Die Tränen rannen ihr jetzt haltlos über die Wangen. »Ich hätte gar nicht in diesem Zimmer sein sollen. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
»Deine Großmutter. Sie konnte einen zur Weißglut treiben... Oder einem furchtbare Angst einjagen ... Jedenfalls in den letzten Jahren.« Das war nicht die Verbitterung, die Tess ihrer Mutter immer unterstellt hatte, auch keine Angst. Aus Sylvettes Stimme sprach der blanke Hass.
»Nicht reden. Die Schmerzen werden nur noch schlimmer.«
»Mutter war ein Ungeheuer. Sie war verrückt, aber nicht wie andere alte Leute. Sie war durch und durch bösartig. Was sie dir angetan hat, damals, als du noch klein warst ...«
»Das ist so lange her.« In Wahrheit fühlte es sich an, als wäre es gerade eben erst geschehen. »Ich kann das nie wieder gutmachen«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.
»Das warst nicht du. Sie hat dich das tun lassen. Deine Großmutter gibt selbst im Grab keine Ruhe. Und sie hat noch eine Rechnung zu begleichen.«
»Mutter, ich weiß nicht, ob —«
»Keine Sorge, ich sehe keine kettenrasselnde alte Frau durchs Schloss geistern. Aber es fühlt sich an, als wäre irgendwas von ihr noch immer da drüben in diesem Zimmer. Deshalb hab ich alles ausräumen und verbrennen lassen und ihre Muscheln ins Meer geworfen.«
Tess streichelte ihren Unterarm. »Wir reden später darüber, ja?«
Aber Sylvette ließ sich nicht beirren. »Ich muss weg von hier, Tess. Fort von dieser Insel. Und ich gehe mit ihr, mit Axelle.«
Als hätte sie auf dieses Stichwort gewartet, erklangen draußen die eiligen Schritte der Fremden. Kurz darauf erschien sie in der Tür.
Sylvette nahm Tess’ Hand und klang nun beinahe feierlich. »Das ist Axelle Octavian. Sie ist die Frau, die ich liebe.«
KAPITEL 29
Octavian.
Der Name war als Steinrelief über dem Portal des verwitterten Barockpalastes angebracht.
»Der Stammsitz meiner Familie«, sagte Sophia. Auch im schwindenden Tageslicht war sie eine ungewöhnlich schöne junge Frau, aber in ihrem Wildledermantel mit Pelzbesatz wirkte sie nicht halb so glamourös wie kostümiert unter Bühnenlampen oder im Kerzenschein ihrer Wohnung.
Aura blieb neben ihr auf dem Gehweg stehen, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete das altehrwürdige Gebäude. Fünf Stockwerke hoch erhob es sich unweit des Kleinseitner Rings. Ein halbrunder Giebel beherrschte die Fassade mit ihren zahllosen Sprossenfenstern und Vorsprüngen. Entlang der Straße verlief eine Arkade aus sieben hohen Bogen, darunter lag der Eingang im Schatten.
In diesem Viertel gab es viele imposante Bauten, aber nur wenige, die es an Größe mit dem Palais Octavian aufnehmen konnten. Die Fassade hätte einen Anstrich gebrauchen können, ebenso die ehemals weißen Fensterrahmen. Doch selbst solche Schönheitsfehler täuschten nicht darüber hinweg, dass hinter diesen Mauern eine der vermögendsten Dynastien Prags residierte.
»Was ist das daneben?«, erkundigte sich Aura.
Rechts des Palastes befand sich ein Gebäude, das ein Stockwerk niedriger war. Fein ziselierte Jugendstilornamente schmückten die Straßenseite. Am auffälligsten aber war das gewaltige Portal, ein Torbogen, der sich über drei Etagen erstreckte und gut
die Hälfte der Fassade einnahm. Die beiden unteren Drittel waren mit grob verfugten Ziegelsteinen zugemauert worden. Oberhalb davon ließen sich im Bogen des Portals schmutzige
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