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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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gesteckt. Sie war nackt, die geschnitzten Warzen an ihren schweren Brüsten aufgerichtet und beide Arme nach vorn ausgestreckt. An einer Hand fehlten drei Finger, an der anderen zwei. Auch das Gesicht war halb verwittert, die Augenpartie grobschlächtig mit einer Raspel entfernt worden.
    »Ist das eine Galionsfigur?«
    Sophia nickte. »Eine Urahnin der Octavians war eine Weltreisende, eine der ersten weiblichen Entdeckerinnen überhaupt. Sie hat sämtliche Meere bereist und allerlei Museen mit ihren, sagen wir mal, Fundstücken beliefert. Die Galionsfigur stammt von ihrem Schiff.«
    Aura hob eine Augenbraue. »jemand, den ich kennen sollte?«

    »Nicht ich, falls du das meinst«, entgegnete Sophia lachend. »Ihr Name war Zuzana. Zuzana Octavian. Schlag im Lexikon nach – wenn es dick genug ist, findest du einen Eintrag über sie. Das alles ist kein Geheimnis, genauso wenig wie die Tatsache, dass sie mit dem, was sie aus aller Herren Länder zusammengetragen hat, eine hübsche Summe verdient hat. Das Fundament von all dem hier. Wer weiß, ob sich die Octavians heute ihre Absonderlichkeiten leisten könnten, wenn die gute Zuzana nicht äußerst großzügig im Umgang mit gestohlenem Tempelgold und seltenen Trophäen gewesen wäre. Jedenfalls war sie keine von diesen Forscherinnen mit Tropenhut und Schmetterlingsnetz.«
    »Du hast sie gekannt.«
    »Aber ja.«
    Aura machte einige Schritte auf die Galionsfigur zu, bis sie unter deren ausgestreckten, verstümmelten Händen stand. Der Torso musste über zwei Meter messen, allein das augenlose Gesicht war gewaltig. Von Nahem erkannte sie, dass man versucht hatte, in die ausgefeilte Rinne unterhalb der Stirn zwei neue Augen zu malen. Die Farbe war wieder entfernt worden, aber dunkle Reste hatten sich in Kerben und Ritzen festgesetzt wie verlaufene Harlekinschminke.
    »Hätte es nicht auch ein geschmackvolles Hirschgeweih getan?«
    Sophia grinste und wirkte dabei erneut unverschämt jung. »Im Hause Octavian ist das keine Frage des Geschmacks, sondern der Tradition. Wenn später genug Zeit bleibt und sie uns nicht als Hexen in den Ofen stopfen, zeige ich dir noch was anderes.«
    »Zuzanas Schrumpfkopfsammlung?«
    »Viel besser.«
    Aura wandte sich noch einmal der Galionsfigur zu, beinahe gegen ihren Willen. Der Körper war mit Rissen übersät, wo das
Holz dem Salz der Weltmeere nicht standgehalten hatte. Die Taille wirkte fragil und porös; ein Wunder, dass die Gestalt nicht aus ihrer Verankerung brach.
    Als Aura den Blick wieder senkte, war Jakub lautlos zurückgekehrt. »Die Herrschaften erwarten Sie jetzt.« Argwöhnisch spähte er zu Aura herüber, so als fürchtete er, sie könnte die kostbare Figur unter ihrer Bluse verschwinden lassen.
    Sophia streckte Aura die Hand entgegen. »Komm, ich stell dich meiner Familie vor.«

KAPITEL 30
    Uhrenticken erfüllte den Raum, in dem die Octavians das Abendessen einnahmen. Aber das Pendel der Uhr auf dem Kaminsockel bewegte sich nicht, die Zeiger standen reglos auf zwanzig nach acht. Vielmehr drang das Ticken aus dem Trichter eines Grammophons, auf dem sich eine Schellackplatte drehte.
    »Wir trauen keinen Uhren in diesem Haus«, verkündete Estella Octavian. »Aber wir lieben die beruhigende Wirkung dieses Geräuschs.«
    Sie war eine hagere, streng wirkende Frau mit hochgestecktem grauem Haar. Vor ihr stand ein Glas Wasser, das sie bis zum Hauptgang nicht angerührt hatte.
    Bei ihren Worten erklang vom anderen Ende des Tisches ein leises Kichern, aber Aura konnte den Mann, der es ausgestoßen hatte, nicht sehen. Ein enormes Blumengesteck in der Mitte der Tafel verbarg Estellas Schwager Severin Octavian. Offenbar hatte Sophia diesen Blütenberg bereits am Nachmittag vorbeibringen lassen. Niemand schien es für nötig zu halten, es mit einem Wort zu erwähnen, und so thronte das Gesteck monumental und ungeliebt zwischen den Speisen wie etwas, das für jeden außer Aura unsichtbar war.
    Ludovico Octavian – Estellas Gatte, Severins Bruder und das Oberhaupt der Familie – blickte von seinem Wildbraten auf, versuchte ein freundliches Lächeln und scheiterte kläglich. Das bemerkte er wohl auch selbst, denn sogleich erschlafften seine Mundwinkel und er widmete sich wieder wortlos dem Essen. Bei ihrer Begrüßung hatte er Aura taxiert wie etwas, das einem
für Geld an einer Straßenecke angeboten wurde: Kann ich das brauchen? Was wird es mich kosten?
    Ludovicos weiches Gesicht war übersät mit Altersflecken. Sein schütteres

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