Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
im Erdgeschoss eingerichtet hatte, über ihr Schlafzimmer bis hin zu einem der Salons. Möglicherweise stattete sie Charlottes Grab auf der Friedhofsinsel einen Besuch ab. Spätestens beim Abendessen würde Tess sie sehen.
Erst einmal ging sie hinunter in die Küche. Durch die offene Tür des Speisezimmers sah sie, dass für zwei Personen gedeckt
war. War ein Besucher im Schloss? Aura hatte sich doch gewiss längst aus dem Staub gemacht.
Die Küche war verlassen, und das erregte ihr Misstrauen. Es war schon später Nachmittag, in nicht einmal einer Stunde würde das Essen aufgetragen. Sie rief den Namen der Köchin, schaute ins Kühlhaus und in die Vorratskammer, aber da war niemand.
Als Nächstes warf sie einen Blick ins Arbeitszimmer ihrer Mutter. Von hier aus verwaltete Sylvette die Güter der Familie, kontrollierte Miet- und Pachteinnahmen, überwachte Instandhaltungskosten diverser Immobilien und tätigte kleinere Bankgeschäfte im In- und Ausland. Auf dem Schreibtisch lagen ein paar ungeöffnete Briefe.
Wieder die Treppe hinauf, diesmal in den zweiten Stock des Westflügels, zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Sie klopfte leise, dann lauter, schließlich trat sie ungebeten ein. Zwei zerraufte Kissen lagen am Kopfende des breiten Bettes, die Decke war zum Lüften zurückgeschlagen. Das benachbarte Bad war leer, im Ankleidezimmer lagen ein paar Sachen auf einem Haufen. Tess war seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Offenbar war das Ordnungsempfinden ihrer Mutter nicht mehr so penibel wie früher.
Sie trat hinaus auf den Korridor und zögerte, als sie Charlottes ehemalige Gemächer passierte. Hexe, Hexe! , echoten Kinderstimmen durch ihren Kopf. Widerstrebend legte sie eine Hand auf die Klinke und hoffte, dass sie abgeschlossen wäre. Dann drückte sie den Messinggriff nach unten.
Die Tür schwang fast lautlos nach innen.
Staubige Leere. Die beiden Zimmer ihrer Großmutter waren vollständig ausgeräumt. Kein Möbelstück, keine Bilder. Nur die Umrisse der Rahmen, Kommoden und Schränke an den Tapeten waren zu sehen, helle Rechtecke auf dem vergilbten Untergrund.
Tess’ Schritte hallten von den kahlen Wänden wider, als sie das Vorzimmer betrat. Vor vielen Jahren hatte Charlotte sie gegen ihren Willen in dieses Gemach gezerrt. Tess war damals erst sechs Jahre alt gewesen, aber selbst heute noch spürte sie die Geisterhand ihrer wahnsinnigen Großmutter am Arm und bekam eine Gänsehaut.
Das Kind regte sich in ihr, trat von innen gegen ihre Bauchdecke. Beruhigend legte sie eine Hand auf die Wölbung. Vielleicht spürte das Kleine ihren Widerwillen gegen diesen Ort.
Fröstelnd durchquerte sie den Vorraum und betrat das ehemalige Schlafzimmer. Der Geruch nach altem Mensch hatte sich in den Tapeten und Dielenbrettern festgesetzt. Über dem Umriss des Bettgiebels hatte sich die Silhouette eines Kreuzes abgezeichnet, neben der Tür ein halbiertes Oval, wo einmal ein Weihwasserbecken in Muschelform gehangen hatte.
Charlottes Sammlung war mit allem anderen fortgeschafft worden. Doch als Tess das Buntglasfenster betrachtete, entdeckte sie davor eine einzelne Muschel. Sie musste bei den Aufräumarbeiten liegen geblieben sein. Eine flache, weiße Schale, so groß wie eine Untertasse und mit welligem Rand, durchädert von silbrigen Schlieren. Eine Ecke war abgebrochen.
Tess nahm die Muschel in die Hand. Ein Schauder lief durch ihren Körper, als hätte sie in diesem Augenblick Charlotte selbst berührt. Sie taumelte zurück und konnte sich plötzlich vor Schwindel kaum auf den Beinen halten. Ein Kinderschrei gellte in ihren Ohren, und einen entsetzlichen Augenblick lang glaubte sie, es wäre ihr Kind. Dann begriff sie, dass es die Erinnerung an ihren eigenen Schrei war. An die knochigen Finger, die sie durch den Türspalt gepackt hatten, an das Gesicht mit loderndem Irrsinn in den Augen, das wirre Haar, den stinkenden Atem.
Die blassen Tapetenmuster bewegten sich, als blähte sich die Wand dahinter zu Blasen auf, und das Licht der Abendsonne
hinter dem Fenster tanzte in Farbsplittern durch den Raum. Eine Gestalt schien hinter den Lichtern zu gehen, ein Schemen, der Tess umkreiste und nur darauf wartete, dass sie wieder schwach und klein war wie einst. Sie hätte diese Zimmer niemals betreten dürfen, damals nicht und heute erst recht –
Eine Hand berührte sie.
Tess schrie auf, wirbelte herum und riss sich in derselben Bewegung los. Erst als sie zuschlug bemerkte sie, dass sie noch immer die Muschel in der Hand
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