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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Studien der Alchimie hatten sie schon früh auf okkulte Schriften aller Art stoßen lassen, aber erst seit einigen Jahren beschäftigte sie sich ernsthaft damit. Sie war weit davon entfernt, auf doppelt belichtete Photographien und unterbelichtete Wichtigtuer hereinzufallen, aber sie leugnete die Existenz des Übernatürlichen nicht mehr so kategorisch wie früher. Sie musste nur in den Spiegel sehen, um mit etwas konfrontiert zu werden, für das es keine natürliche Erklärung gab.
    »Eigentlich«, sagte Tess, »meinte ich, ob Charlotte vielleicht irgendwas mit der Uhr gemacht hat. Vielleicht hat sie den Mechanismus blockiert.«
    Aura stand auf und musterte die gewaltige Uhr. Im Inneren wurde sie von Seilzügen und Gewichten angetrieben. Die Rubine auf den Zeigerspitzen funkelten. In der unteren Hälfte des goldenen Zifferblattes gab es eine kleine Öffnung, in die ein spezieller Schlüssel passte. Mit seiner Hilfe musste die Uhr alle paar Tage aufgezogen werden.
    »Hat Mutter ihr Zimmer zuletzt noch verlassen?«
    »Nicht oft. Manchmal ist sie ziellos durchs Schloss gegeistert, bis irgendwer sie zurück ins Bett oder in ihren Sessel gebracht hat.«
    Wenn Auras Unsterblichkeit überhaupt ein Gutes hatte, dann dass ihr dieses Schicksal erspart bleiben würde. »War sie auch hier im Speisezimmer?«
    »Hier und überall sonst. Einmal hat man sie oben im Dachgarten gefunden, und da ist sie früher nie freiwillig hochgegangen.«
    Ihre Mutter hatte das Glashaus auf dem Dach seit jeher gemieden. Zu viele böse Erinnerungen an Nestor, der sich jahrzehntelang dorthin zurückgezogen hatte.
    Der Schlüssel zum Aufziehen der Uhr lag auf dem Esstisch,
er ähnelte einem eisernen Schmetterling. Aura schob ihn in die Öffnung. Die Uhr ließ sich kinderleicht aufziehen, selbst nach so vielen Jahren bewegten sich die Zahnräder, als wären sie eben erst geölt worden.
    Einem Impuls folgend drehte sie den Schlüssel in die entgegengesetzte Richtung. Erst stieß sie auf Widerstand, dann knackte es. Sie glaubte schon, sie hätte etwas beschädigt, doch dann bemerkte sie, dass sich die Uhr auch links herum aufziehen ließ.
    »Seltsam«, murmelte sie. »Vielleicht ein eigener Mechanismus für das Figurenspiel.«
    Tess schüttelte entschieden den Kopf und kam näher, bis ihr kugelrunder Bauch fast gegen das lackierte Holz stieß. Sie schrak zurück, so als wollte sie vermeiden, dass ihr ungeborenes Kind mit der Uhr in Berührung kam. »Ich hab das Ding oft genug aufgezogen. Die Figuren laufen mit übers Uhrwerk.«
    Aura drehte den Schlüssel nach links bis zum Anschlag. Im Inneren begann es zu surren wie ein Insekt in einem Einmachglas. Als sie den Schlüssel aus der Öffnung zog, ertönte ein einzelner Vogelruf, dann herrschte Stille.
    »Das ist es, oder?« Tess’ Miene verriet mehr Hoffnung als Überzeugung. Ob die Vogelstimmen fortan schwiegen, würden sie erst heute Nacht wissen.
    Aura trat einige Schritte zurück, bis sie die Uhr zwischen den hohen Fenstern vollständig im Blick hatte. »Was für ein Mechanismus soll das sein, der verhindert, dass etwas geschieht? Normalerweise zieht man die Uhr doch auf, damit sie funktioniert.«
    »Hast du eine Ahnung, wo Nestor sie herhatte?«
    Aura schüttelte den Kopf. »Sieht jedenfalls so aus, als hätte Mutter den Mechanismus heimlich immer wieder aufgezogen.«
    Doch warum hatte Charlotte ihn all die Jahre über mit keinem Wort erwähnt? Und weshalb hatte sie persönlich dafür gesorgt, dass die Vögel um Mitternacht schwiegen, statt einen Diener damit zu beauftragen?

    Zwangsläufig dachte Aura an die Sprache der Vögel , einen geheimen Code der Alchimie. Hinweise darauf hatte sie immer wieder in der Literatur gefunden, obgleich sie niemanden kannte, der diese Sprache tatsächlich beherrschte – oder auch nur wusste, wie sie klang. In den alchimistischen Schriften wimmelte es von derartigen Begriffen, für die es keine Erklärungen gab und deren einzige Quelle oft genug die blühende Phantasie der Verfasser war.
    Nachdenklich neigte sie den Kopf. »Vielleicht sollten wir den Kasten einfach ins Meer werfen lassen, dann ist ein für alle Mal Ruhe.«
    Sie ließ ihren Blick noch einmal über die Uhr wandern, über die grazilen Schnitzereien, das schimmernde Zifferblatt. In einigen Stunden würde sich die große Tür öffnen. Dann würde ein klappriger Sensenmann erscheinen, gefolgt von einer grobschlächtigen Gestalt, die das Skelett von hinten bei den leeren Augenhöhlen packte und zurück in

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