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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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den Uhrkasten zerrte. Ein Mensch, der den Tod bezwingt. Falls es nicht Nestor selbst gewesen war, der dieses Ungetüm in Auftrag gegeben hatte, dann jemand, der ihn sehr genau gekannt hatte.
    Die Luke, durch die sie ins Innere geblickt hatte, stand noch immer offen. Aura ging in die Hocke, um sie zu schließen, als ihr Blick auf etwas fiel, das ihr zuvor entgangen war. An der Innenseite der Holzklappe, einen Fingerbreit über dem unteren Rand, befand sich ein Brandzeichen, ein schwarzes Symbol.

    Im Vergleich zu den feinen Schnitzereien an der Außenseite wirkte es so primitiv wie Buchstaben, die Verliebte in Baumstämme ritzen. Schwer vorstellbar, dass jemand, der so filigran arbeitete wie der Erbauer dieser Uhr, sein Werk mit einem derart plumpen Zeichen signierte.

    Tess hatte es noch nicht bemerkt. »Hast du mal wieder was von Konstantin gehört?«
    »Zuletzt vor zwei Monaten.« Nachdenklich folgte Aura dem Verlauf des Symbols mit der Fingerspitze.
    »Schreibt er noch an seinem Buch über die Kathedralen?«
    »Soweit ich weiß.«
    Konstantin Leopold Ragoczy, der Graf von Saint-Germain, war unsterblich wie sie, besaß die Erfahrung von Jahrhunderten und hatte jeden Zweifel, jede Angst im Zusammenhang mit dem ewigen Leben längst hinter sich gelassen. Auf viele von Auras Fragen hatte er Antworten gekannt, er hatte sie aufgefangen nach den Ereignissen in Spanien, hatte Verständnis gehabt für ihre Erschöpfung, die Albträume und ihre Launen. Nach und nach hatte sie geglaubt, ihn lieben zu können, hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, nur um irgendwann zu erkennen, dass Mühe der falsche Einsatz war in einem Spiel, in dem es um etwas so Verletzliches ging wie Empfindungen. Langsam und unaufhaltsam waren sie auseinandergedriftet, ohne Vorwürfe, ohne ein böses Wort. Irgendwann war er aus der Villa in Sintra ausgezogen, bereiste seitdem Europa und meldete sich gelegentlich, um ihr von seinen Ergebnissen bei der Erforschung der gotischen Kathedralen und den verschlüsselten Botschaften ihrer Architekten zu erzählen.
    Aura deutete auf das Symbol im Inneren der Uhr. »Irgendwo hab ich das schon mal gesehen.«
    »Sind das Initialen?«
    Aura berührte das Zeichen erneut, dann erhob sie sich mit einem Ruck. »Kannst du Treppen steigen?«
    In Tess’ Augen blitzte es. »Neugier ist dein Dilemma, nicht die Bücher.«
    Aura ergriff sie sanft bei den Schultern. »Kannst du dir vorstellen, wie langweilig das ewige Leben ohne Neugier wäre?«

KAPITEL 6
    »Er lebt noch immer hier oben«, sagte Tess, als sie die knarrende Treppe zum Dachgarten hinaufstiegen.
    Einen Augenblick lang glaubte Aura tatsächlich, sie meinte Nestor. Und obwohl sie es besser wusste, schrak sie innerlich zusammen. Für Sekunden waren die Gefühle von damals wieder da wie ein Geruch, den sie nicht abschütteln konnte.
    Tess deutete auf die Tür am Ende der Stufen, auf ein flaches Relief, das in das Holz geschnitzt war: die stilisierte Darstellung eines Pelikans mit vorgebeugtem Kopf, den langen Schnabel eng an die Brust gelegt.
    »Der Vogel?«, murmelte Aura. »Er ist noch hier?«
    Tess nickte. »Ich hab ihn gesehen, als ich das letzte Mal oben war. Ungefähr vor einem halben Jahr. Und Öffnungen gibt es genug im Dach.«
    Der Pelikan hatte im Glashaus gelebt, so weit Aura zurückdenken konnte. Zum ersten Mal war sie ihm begegnet, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Das musste an die vierzig Jahre her sein und sie bezweifelte, dass es einen Vogel gab, der so alt werden konnte.
    Da verstand sie, worauf Tess hinauswollte. »Du denkst, der Pelikan hat das Kraut gefressen?«
    »Wäre möglich, oder?«
    Aura hatte nie darüber nachgedacht, ob das Gilgameschkraut seine Wirkung auch bei Tieren zeigte. Ein Vogel, der ewig lebte? Warum eigentlich nicht?
    Tess lachte. »Natürlich könnte es auch ein anderer Pelikan sein. Vielleicht hat der erste ein Ei gelegt.«

    Aura war dankbar dafür, dass Tess ihr Gesellschaft leistete. Immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie den klaren Blick auf das Nächstliegende verlor und allerorts ungelöste Mysterien und Rätsel vermutete. Mit den Jahren war sie wunderlich geworden, vielleicht ein wenig weltfremd.
    Tess war außer Atem, als sie vor der Speichertür stehen blieben. Aura beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Ihre Nichte bemerkte es sogleich. »Himmel, nun mach dir mal ja keine Sorgen um mich!«
    »Kein bisschen.«
    »Ich bin nur schwanger.«
    »Ist mir aufgefallen.«
    »Warum behandeln mich dann alle, als

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