Die Aldi-Welt
Hollandgurken mehrere Stunden gegen den Wind daran zu erkennen sind, daß sie eben nicht riechen. Tun einem fast leid, wie Retortenbabies, die nie im Mutterleib waren. Chemiestengel. Nährlösungsderivate. Ob ich welche mitnehme, denkt er und beugt sich schon hinunter, er, der Bauernwiesenblumenkitschler, der beim Floristen immer schon vor dem Eintreten Aber-ohne-Folie! schreit (gedanklich jedenfalls), und hier beugt er sich – und da setzt seine Kontrollinstanz wieder ein, sein zweites Ich tritt aus ihm heraus, verschränkt die Arme und sagt stirnrunzelnd: Was, diesen Chemiemüll? Darauf sein wahres, sein trotziges Konsum-Ich: Warum denn nicht. Glaubst du denn, in Blumenläden kämen die Tulpen woanders her? Ist doch alles das gleiche, bloß hier ist es billiger… billiger… billiger…
Wohin soll ich mich wenden, denkt er noch, als er die tropfenden Blumen – da ist tatsächlich noch ganz konventionell Wasser unten drin – aus der Bedrängnis befreit, schon wird ihm die Entscheidung abgenommen. Die Frau vor ihm schert nach rechts aus. Na gut, dann die linke Reihe. Sie ist so gut wie jede andere. Ein wenig willenlos läßt er sich hinübertreiben, kommt vor einer neuen Rückenpartie zum Stehen. Oha, das war die vielversprechendere Wahl. Eine Rothaarige. Gepflegter Haarschnitt, Nacken frei, schöne Halslinie. Verschwindet in einem schwarzen Sweatshirt, enganliegend, figurbetont. BH-Abdruck sichtbar, sehr gut, Schließe hinten, kein Vorderlader, schneidet nicht ein. Taille hervorragend betont, geht über in einen schlichten schwarzen Gürtel, der eine sandfarbene Leinenhose hält, schau an, schau an, geschmackvolles Unternehmen. Bei Aldi gibt es auch ab und an Damenunterwäsche, ja frage nicht! Was tust du hier, Schöne? Fesseln leider nicht wirklich zu sehen, barfuß auf jeden Fall in flachen Slippern. Todds-ähnlich, keine Marke zu erkennen, egal. Noch einmal von oben prüfen – ja, doch. Jetzt beginnt das Rätselraten. Wie sieht sie von vorne aus. Nichts schlimmer, als einer falschen Alters- oder Typschätzung aufzusitzen, keine herbere Enttäuschung, als wenn das Gesicht den Flurschaden einer Pubertätsakne zeigt oder gar einer verhärmten Endvierzigerin gehört, die Fitneß-Studios bewohnt und im Urlaub ganztägig auf einer Liege in der Sonne brutzelt. Der Einkauf deutet, soweit er das aus dem eingeschränkten Sichtfeld beurteilen kann, beinahe auf die Gattung Single hin: Krabben in Öl, Mehrkorntoast, eine Flasche Champagner – recht viel mehr ist im Moment nicht zu sehen, ah da, Papierservietten in weiß, neutral irgendwie. Das sagt nicht allzuviel. Keine Ohrringe. Scheint Naturfarbe zu sein, also vielleicht doch noch keine Vierzig. Es geht weiter, was steht denn da vor ihr – nein, verdammt noch mal, das hat gerade noch gefehlt: ein waschechter Hamsterkäufer. Turmhoch beladen, con tutto, als wollte er den ganzen Laden auf einmal mitnehmen. Dosenbier palettenweise, dann Mehl-Zucker-Butterschichten – was regst du dich auf? Laß es doch fließen, ob du die paar Minuten hier oder an der nächsten Ampel wartest… es kommt wirklich nicht darauf an. Das sind nur wieder diese atavistischen Instinkte, schneller zu sein, egal wo. Im Stau, am Skilift, am Büffet, beim Einchecken am Flughafen, an der Theatergarderobe, am Kartenschalter, an der Autobahntankstelle – überall, wo es gilt, Gleicher unter Gleichen zu sein. Das sitzt tief. Er weiß es. Aber er kann nicht dagegen angehen. Da greifen keine Vernunftargumente. Es ist unabänderlich: Die größte Gefahr überhaupt, die mit einem Einkauf verbunden ist, ist und bleibt die Wahl der richtigen Kassenschlange. Warum hat Hollywood zu diesem Thema so penetrant geschwiegen? Lubitsch? Wilder? Nicht mal die deutsche Komödie hat das Thema durchexerziert. Müssen unsere »Tatort«-Kommissare niemals einkaufen? Immer nur ermitteln, nie an der Kasse bei Aldi. Schimi hatte keine Zeit für so was, klar, aber die Neuen sind auch nicht besser, immer Handy und 5er BMW, niemals in der falschen Schlange. Als gäbe es eine Situation, die mehr Fallhöhe hätte: antikisches Ausmaß, wenn du die falsche Wahl getroffen hast. Der Mensch in der Revolte. Existentialisten kaufen nicht bei Aldi. Handke auch nicht. In der Niemandsbucht gibt es keine Aldis, nur Seinsverlorenheit. In der Uckermark bei Botho Strauß – keine Aldi-Filiale weit und breit. Nur wogende Wiesen und Beginnlosigkeit. Das haben die alle nicht nötig. Walser? Der Grass vielleicht; der hatte ja immer wieder mal
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