Die Aldi-Welt
einen Anfall von Wahrheit. Dann pfeffert er dazwischen, das schon. Grummelt so sehr, daß Bild ihn auf Seite 1 schlachtet. Andererseits Günter G. mit Frau Ute in einer Aldi-Filiale in Mölln? Ich weiß nicht. Unsere großen Dichter: Arno Schmidt hätte ihnen was gepfiffen. Und Simmel, etwas müde geworden, sitzt längst in der Schweizer Steueroase Zug und recherchiert nur noch in 5-Sterne-Hotels. Der einzige Beckett hätte es kapiert, was es bedeutet, die falsche Schlange gewählt zu haben. Und natürlich Joyce. Der hätte gleich einen Jahrhundertroman daraus gemacht. Porträt des Aldianers als junger Mann. Nein, nein, es herrscht ein Erklärungsnotstand. Die Politik gibt längst keine Antworten mehr, sie stellt nur täglich neue Probleme aus; der Wirtschaftsteil ist im internationalen Börsenfieber zu einer Zahlenkolumne verkommen, das Feuilleton – schrieb dagegen an, wurde aber nicht gelesen. Blieb der Lokalteil. Der war wie immer. Mittwochs die Aldi-Anzeige, sonst Todesanzeigen und Fotos von Geschäftseröffnungen, der örtliche Pope, der Gewerbeverbandsvorsitzende, der Inhaber mit Frau (die Inhaberin mit Lebensgefährten), der Bürgermeister, alle zusammen bewaffnet mit einem Glas Sekt und einem unnatürlichen Strahlen wg. Lokalpresse. So ist das Leben in Wirklichkeit: ein Vergleich von Waschmittelangeboten. Ein Horchen auf das Näherkommen der Einschläge: wieder eine Beerdigung. Geburt-Schule-Arbeit-Tod. Vor uns liegt ein weißer Strand. Und je weiter du von Bonn weg bist, desto belangloser ist dir der Kohl, denkt er plötzlich, als hätte er das nicht immer gedacht. Vielleicht, weil er sich zeitlebens gegen solches Denken gewehrt hat. Wenn er mit sich selbst dialogisierte, ging ihm gerne der Gaul durch. Gemach, gemach. Was regst du dich auf? Bleib ganz ruhig. Du bist bei Aldi. Alles ist gut.
Du hast wieder einmal nur eine Chance, die richtige Schlange zu erwischen. Das weiß er ganz genau. Das ist ein unumstößliches Gesetz. Das stand auf einer jener Tafeln, die Moses auf dem Berg vergessen hatte. Das Meer für einen Durchmarsch teilen, aber keine Normen für die Schlange im Tempel der Wucherer, so etwas hatte er gern. Denn in normalen Geschäften gehört er seit jeher zu den Tölpeln, die stets die falsche Schlange abonniert haben. Eine Karikatur, ein jämmerlicher Versager des Konsumzeitalters, weil er die »Essentials« nicht drauf hat, zum Beispiel den lebenswichtigen Charakterschnelltest über die Kassenfrau anzustellen. Wie schaut sie drein, macht sie einen fixen Eindruck, will sie nach Hause und ist also eher tempolastig, oder zieht sie ein Gesicht wie drei Abende Musikantenstadl intravenös, weil ihr der Job sonstwo vorbeigeht ezettera ezettera. Sitzt gar ein Mann dort, der nur mal eben schnell eingesprungen ist, will sagen unroutiniert, sorgsam darauf bedacht, keinen Fehler zu tippen? Hier ist unbedingte Menschenkenntnis gefragt; ein schnelles Auge, auch und gerade über größere Distanzen. Naturgemäß ist das keine Garantie, aber es hilft. Als Abwicklungshindernis treten für gewöhnlich auf: Ältere Herrschaften, die zur Haupteinkaufszeit der Berufstätigen das »Wo-ist-denn-dieser-Groschen-Spiel« spielen, Packgenies, die sofort ab Kasse ihre mitgebrachte Klappschachtel systematisch und ausbalanciert beladen wollen – und dann Mühe haben, das wg. Überlast im Einkaufswagen sich spreizende Konvolut aus den Fängen des Gitters zu befreien; Halbwüchsige, die Alkoholika ins Freie retten wollen und nach kurzem Wortwechsel zurückgeschickt werden; Kleinfamilien, die unter der Tarnkappe von einer Kiste Wasser und zwei Packungen Klopapier einen ganzen Wagen voller kleinteiliger Joghurtbecher, Thunfischdosen, Kaugummis, Butterpäckchen und so fort verbergen, die sie dann wahllos und unsortiert aufs Band baggern. In seltenen Fällen verschwindet die Kassenfrau selbst, weil sie frisches Geld aus dem Tresor holen muß. Oder der Super-GAU tritt ein, und du wechselst in einem taktisch ungünstigen Moment genau in jene Schlange, die exakt in diesem Moment mit dem Ruf »Bitte hier nicht mehr anstellen! Diese Kasse wird geschlossen!« zur Sackgasse wird.
Für den Aldi-Kunden, der gemächlich in seiner Umlaufbahn auf die Kasse vorrückt, haben solche perfiden Lügen Stummelbeine. Eines weiß er: Selbst im unwahrscheinlichsten Fall, wenn er trödelte, wenn er spielerisch sich zwischen den letzten Wühltischen mit Baumscheren, Freizeithemden oder Schnittblumen verschanzte, um einen gewissen Stau abzuwarten,
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