Die alte Villa (German Edition)
berührt hatte.
Sie bog um die nächste Häuserecke und fuhr dann in die Buchenallee.
Doch heute hatte sie kein Glück und es war das erste Mal, dass auf ihr Klopfen niemand öffnete.
Wo mag Tamara nur stecken? , grübelte sie noch eine Weile und entschied sich daraufhin spontan, zu Hannelore zu fahren.
Vielleicht entsprang dieser Entschluss auch ihrem schlechten Gewissen, das sie gegenüber der Freundin hatte, da sie sich in den letzten Wochen – außer in der Schule - einfach viel zu wenig gesehen hatten. Irgendwie war die Zeit immer so knapp und die Besuche bei Tamara waren ihr so immens wichtig gewesen.
Es war ein ordentliches Stück zu fahren bis zum Haus ihrer Freundin, denn diese wohnte in einem ganz anderen Viertel der Kleinstadt. Bei den ungewohnt hohen Temperaturen kam sie anständig ins Schwitzen.
Als Hannelore ihrer Freundin die Tür geöffnet hatte, begrüßte sie diese mit überschwänglicher Freude, um ihr gleich darauf zu erklären, dass sie gerade Besuch von einer Cousine hätte. Rebecca setzte sich zu den beiden Mädchen. Schon recht bald bemerkte sie jedoch, dass sie mit Karolin nicht recht warm wurde.
Die Cousine aus der Schweiz war ihr einfach viel zu höflich, als dass man mit ihr ein vernünftiges Gespräch führen konnte. Egal, welches Thema man auch ansprach, von Karolins Seite kam sogleich überschwänglicher Zuspruch. Das war fast noch schlimmer, als wenn die Cousine mit schlechter Laune brilliert hätte.
So verließ Rebecca die beiden schon nach einer halben Stunde wieder.
Hannelore begleitete sie noch bis zur Tür und fing an zu flüstern: „Rebecca, ich habe etwas Unglaubliches entdeckt. Hier in der Stadt! Können wir uns morgen treffen? Dann zeig ich es dir!“
Rebecca schaute sie erstaunt an. Natürlich brannte sie darauf, zu erfahren, was ihr Hannelore denn Interessantes zeigen wollte, doch zügelte sie ihre Neugier und nickte.
„Ok, ich ruf dich an!“
Dann fuhr sie den ganzen Weg zurück, hielt vor dem Friedhof an und stellte ihr Rad dort in einen der Fahrradständer.
Aus völlig unerklärlichen Gründen überfiel sie ein Gefühl großer Unruhe. Normalerweise liebte sie das Alleinsein, doch machte es sie heute einfach nur traurig, dass niemand für sie Zeit zu haben schien. Nicht Tamara, und auch Hannelore nicht, und Torsten schon gar nicht…
Ein Gang über den Friedhof und ein Besuch der vertrauten Grabstätten würde ihre Gefühlswelt vielleicht wieder ins Lot bringen. Ohne Hast schlenderte sie durch das hohe Eingangstor.
~
Bergisches Land, 1679
Die a lte Frau, die das an Grausamkeit kaum zu überbietende Schauspiel aus einiger Entfernung beobachtet hatte, löste nun ihre verkrampft gefalteten Hände.
Weinkrämpfe schüttelten ihren gebeugten Körper. Mit der Kraftlosigkeit eines gänzlich gebrochenen Menschen schleppte sie sich mühsam fort von diesem Ort des Grauens.
Um unerkannt zu bleiben, hatte sie sich in einen dunklen langen Mantel gehüllt.
Als sie sich im Schutz einer engen düsteren Gasse sicher wähnte, sackte sie erschöpft auf den Boden, hockte dort nun zusammengekauert, ihren Körper vor und zurück wiegend, wie ein Mensch, der unerträgliche Schmerzen auszuhalten hatte.
Die Gasse führte vom Marktplatz direkt in eines der Wohnviertel der Stadt.
Menschenleer schien die Stadt an diesem Abend zu sein, als wären ihre Bewohner allesamt auf den Marktplatz gepilgert, um dort geschlossen der Hinrichtung des Mädchens beizuwohnen. Eines Mädchens, das sie doch alle kannten..
Und dabei gab es hier in der Stadt auch Menschen, die sich über diesen Wahnsinn erregten, das wusste die Alte mit Bestimmtheit.
Doch wo waren diese heute gewesen? Wo waren sie in den Wochen zuvor gewesen? Warum hatte man ihr den Prozess weit weg in einer anderen Stadt gemacht, um die Verurteilte anschließend zur Urteilsvollstreckung wieder hierher zu bringen?
Warum war niemand da gewesen, um ihr geliebtes Enkelkind zu retten?
Sich die Hände vor ihr Gesicht haltend, kauerte sie am Boden, wünschte sich nichts sehnlicher, als die soeben gesehenen Bilder aus ihrem Gedächtnis auszulöschen, und mit ihnen die beispiellosen Bosheiten, die sich so plötzlich und unbarmherzig ihres Lebens bemächtigt hatten. Sie schien nicht mehr als ein dunkles Bündel am Wegrand zu sein, welches leise vor sich hin murmelte:
„Mein liebes Kind, wie sehr ich dich liebe!“
Minutenlang verweilte sie an dem finsteren und menschenleeren Ort. Jede
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