Die alte Villa (German Edition)
Energie schien ihren hinfällig wirkenden Körper verlassen zu haben.
Dann, völlig unvermutet, vom einen auf den anderen Moment, richtete sich die Alte auf. Als würde ein Ruck durch ihre alten Glieder fahren, sah man sie nun mit kleinen, aber raschen Schritten fort von diesem Ort des Unheils eilen.
Im Schein einer Ölfackel, die vor einem der hohen Häuser in der Gasse aufgestellt war und ihren Lichtstrahl auf die kleine Gestalt fallen ließ, erkannte man einen Ausdruck wilder Entschlossenheit in ihrem mit unzähligen Falten gezeichneten Gesicht.
Ihr Unterkiefer hatte sich ein ganzes Stück nach vorne geschoben und sie starrte nun gebannt in die Dunkelheit, als hätte sie dort, in einem pechschwarzen Vakuum einen Punkt fixiert, der ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
„Dieses Unrecht darf niemals vergessen werden!“, sagte sie laut und mit großer Entschiedenheit . Sie sprach weniger zu sich selbst, als zu einem unsichtbaren Publikum, das sich hier im Nichts um sie herum versammelt hatte.
Zornig schaute sie in dieses formlose Nichts und wiederholte ihren Satz, lauter werdend:
„Dieses Unrecht darf niemals vergessen werden!!“
In ihrer Stimme klang ein Zorn, der keinen Widerspruch oder Zweifel geduldet hätte.
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, bückte sich und nahm einen Stein vom Boden auf.
Ganz dicht trat sie an eine Hauswand heran und grub den harten granithaltigen Stein in den viel weicheren Untergrund des Gemäuers. Schwungvoll und mit ungeahnter Energie führte sie das grobe Schreibgerät, ließ ihren ganzen Schmerz und alle erlittenen Ungerechtigkeiten in ihn hineinfließen, zu Strichen und Bögen werden, sorgte dafür, dass die Erinnerung an die heutige Nacht für alle Ewigkeit in den Wänden des alten Hauses überlebten, aus ihnen heraus atmend, Tag für Tag, und die Menschen der Stadt, die hier lebten, auf Schritt und Tritt begleiten würde.
Irgendwann ließ sie erschöpft den Arm sinken, ihre Faust öffnete sich, der Stein entglitt und fiel fast geräuschlos auf die Erde zu ihren Füßen. Sie würde wiederkehren! In jeder dieser unheilvollen Nächte, die weiteren unschuldigen Opfern das Leben auf so grausame Art und Weise nehmen kostete, würde sie wiederkehren. Bis die Kerben tief genug wären, um die Zeit zu überdauern…
Die alte Frau zog ihre Kapuze tief in ihr Gesicht und verschwand lautlos im Dunkel der Nacht.
~
Auch auf dem Friedhof leuch tete es inzwischen schon recht farbenfroh von den zumeist sorgfältig bepflanzten Gräbern.
Rebecca genoss den Frieden und die Ruhe, die nur gelegentlich durch das leise Stimmengemurmel weiterer Friedhofsbesucher und vom Gezwitscher der Vögel unterbrochen wurde.
Ziellos wanderte sie umher und blieb schließlich vor dem Grab ihrer Großmutter stehen, schaute gebannt auf den alten verwitterten Naturstein mit den eingravierten Runen.
Hier konnte sie sich ungestört in ihre eigenen Gedanken versenken.
Nach einiger Zeit bemerkte sie eine vornehm gekleidete Dame, die das Grab neben dem ihrer Großmutter besuchte und dort gerade einen Strauß Blumen arrangierte.
Rebecca wollte nicht unhöflich sein und so suchte sie den Blickkontakt zu der Besucherin, um dieser dann ein freundliches „Guten Tag“ zuzuwerfen.
Doch statt den Gruß zu erwidern, bildete sich auf der Stirn der Besucherin eine ärgerliche Zornesfalte.
„Was ich Ihnen schon immer sagen wollte , dass es sich nicht gehört, hier herumzuschleichen und ahnungslose Friedhofsbesucher zu erschrecken. – Ich denke, sie wissen, wen ich meine!“
Sie wartete erst gar keine Antwort ab, sondern drehte sich rasch um und beendete hiermit ihren kurzen Friedhofsbesuch.
Rebecca war schockiert.
Reden neuerdings immer alle Menschen in Rätseln?
Sie lief ein Stückchen bis zur nächsten Bank und ließ sich dort erschöpft nieder. Was war das nur für ein verflixter Tag heute! Wollte denn heute alles nur schief laufen? Warum waren auf einmal alle Menschen entweder gegen sie oder einfach nicht für sie da?!
Die Sonne schien auf ihr Gesicht und sie schloss die Augen.
Diese Besucherin war ja ganz schön neben der Spur…Was für ein Unsinn
Sie musste an Torsten denken. Wie sie ihn vermisste. Sie wollte ihn wiedersehen, am liebsten gleich heute. Sie wünschte es sich sehnlichst.
Was war mit ihnen beiden nur geschehen?
Am Anfang war alles so einfach gewesen. Ihr gefiel er so, wie er war.
Aber dann hatte sich so Vieles verändert.
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