Die alte Villa (German Edition)
Fenster. Es war viel zu hoch, als dass es von dem kleinen Mädchen erreicht werden konnte.
Zusammengekauert saß es in einer Ecke des unmöblierten Raumes, im Arm eine alte zerzauste Puppe, an der es sich voller Angst festklammerte.
Eine Frau mit einem weißen Häubchen auf dem Kopf erschien. Fremd und bedrohlich kam sie auf das Kind zu und packte es beherzt am Arm.
„Nun, komm jetzt! So klein bist du ja nicht mehr. Hier im Heim gibt es noch viel kleinere Kinder und die machen nicht so ein Theater.“
Sie zerrte die Kleine aus dem Raum.
„Na wenigstens brüllst du nicht gleich los. Das ist ja schon einmal etwas.“
Es brauchte viele Jahre, ehe Greta von diesem Trauma der Trennung loskam. Während der ersten Zeit im Heim sprach sie kein einziges Wort. Sie wusste nicht, warum sie hier war.
Wo war ihre Schwester Elisabeth?
Wie konnte sie ahnen, dass sie sich viele hundert Kilometer von ihrer Schwester entfernt, in einem von Nonnen geführten Kinderheim befand.
Irgendwann schien sie vergessen zu haben, dass sie jemals eine Schwester gehabt hatte und sogar das Bild der kranken Mutter, die ihr mit ihrer lieben Stimme immer so schön vorgesungen hatte, während sie an ihrem Bett gesessen hatte, verblasste mit der Zeit. Eines Tages wusste sie nicht einmal mehr, warum sie eigentlich immer so traurig war.
Die Schwestern im Heim hatten zu keinem der Kinder eine besonders innige Beziehung. Sachlich und mit einer Art kühlen Verbindlichkeit taten die meisten von ihnen ihre Pflicht, nicht mehr und nicht weniger. Einige von ihnen waren grausam und boshaft.
Wie Schwester Gabriela…
Ihr konnte man nicht über den Weg trauen. Sie schien alle Mädchen zu hassen, sobald sie keine kleinen Kinder mehr waren. Kaum fingen ihre Brüste an zu wachsen, behandelte sie die zu Frauen heranreifenden Mädchen wie verabscheuenswürdige Geschöpfe und hatte von da an nie wieder ein nettes Wort für sie übrig.
Im Heim waren Jungen und Mädchen strikt voneinander getrennt. Die Schlaf- und Aufenthaltsräume der Mädchen befanden sich im Südflügel, die der Jungen dagegen im Nordflügel des Heimes. Selbst für die kleineren Kinder begann der Tag frühmorgens um 5.30 Uhr. Dann wurden geräuschvoll die Türen zu dem übergroßen Schlafsaal auf- und 30 Mädchen unsanft aus dem Schlaf heraus gerissen. Falls sie denn noch schliefen.
Greta war meist schon wach, bevor das Weckkommando erschien. In Reih’ und Glied ging es zuerst in den Waschsaal, in dem sich 30 kleine Waschbecken befanden. Sie waren wie an einer Schnur alle dicht nebeneinander an den Wänden angebracht. Auch dieser Raum war groß, so wie alle Räume im Heim beunruhigend groß und hoch waren.
Für beinahe jede Art von Fortbewegung mussten sich die Kinder in Reihen aufstellen, um wieder in den Schlafsaal zurückzukehren, um sich in den Esssaal zu begeben, in den Unterrichtsraum oder in den Aufenthaltsraum, in dem gelernt oder manchmal auch gesungen wurde. Und natürlich wurde viel gebetet. Frühmorgens gleich nach dem Erwachen sprach man das erste Gebet, dann wurde vor dem Essen gemeinsam gebetet, und vor dem Unterricht und am Nachmittag, während der ‚Freizeit’ der Kinder, ebenfalls.
Greta mochte die gemeinsam gesprochenen Gebete. Sie hörten sich so gut und richtig an, so, als wären alle Menschen harmonisch miteinander verbunden. Wenigstens für den kurzen Moment, während dessen man das Gebet sprach!
In diesen Momenten jagten ihr auch die Ordensschwestern nicht mehr so viel Furcht ein. Der rhythmisch klingende ‚Singsang’ der Gebetstexte schien etwas in ihr anzustoßen, etwas tief in ihr Verschüttetes. Eine Stimme schien in ihr zu singen, sobald der Chor aus Mädchenstimmen erschallte, eine wunderschöne Stimme.. Sie erklang nur jeweils so lange in ihr, wie das Gebet andauerte. Dann herrschte wieder Stille. Untröstlich und grausam nahm sie von ihrem Geist Besitz.
Vor allem die Schwestern des Heims wurden augenblicklich wieder zu gesichtslosen Monstern. Manche von ihnen liebten es anscheinend, Furcht zu verbreiten und es war ihnen dann völlig gleichgültig, ob sie ein vierjähriges Kind oder einen hochgeschossenen Teenager vor sich hatten. Der Wille der Kinder musste gebrochen werden und dies um jeden Preis….
Greta war jederzeit verschwiegen und ernst. Niemals sah man sie lachen.
An einem Tag im Dezember des Jahres 1955 sollte sich ihr Leben jedoch völlig unerwartet schicksalhaft verändern.
Sie war inzwischen 12 Jahre alt geworden. Die
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