Die Amazonen
unbesiegt, und alle, die im Kampf schon getötet wurden, werden umsonst gefallen sein!– Hörst du mich?“ Odysseus nimmt Achills Gesicht in beide Hände. „Wir bitten dich: Geh nicht!“
„Geh! Streite zu Hause weiter!“ Agamemnons Brüllen übertönt alles.
„Ich brauche dich hier nicht. Andere kämpfen genauso tapfer und sind mir lieber als du, weil sie den Streit in der Schlacht suchen und nicht im eigenen Lager. Du hetzt meine Männer gegen mich auf, deine üble Rede stinkt schlimmer als die Pest zum Himmel. Verschwinde, aber lass Briseis hier, damit du endlich begreifst: Du zählst nichts, du bist nichts und du hast nichts, wenn ich es so will!“
Die letzten Worten schleudert Agamemnon einzeln gegen Achill, der reflexartig reagiert: Mit einem lauten, unartikulierten Schrei schüttelt er Odysseus ab, entzieht sich Diomedes und schnellt mit zwei, drei gewaltigen Sätzen auf Agamemnon zu. Der weicht zurück, als er Achill den silbernen Schwertgriff packen – und plötzlich verharren sieht.
„Halt an dich, Achill“, flüstert es, „meinetwegen droh ihm, beschimpfe ihn, aber lass das Schwert stecken. Hera und ich sind in großer Sorge, denn wir lieben und brauchen euch beide.“ |72| Achill sieht sich um und schaut in Athenes eindringliche Augen. „Gib nach, auch wenn es dir schwerfällt. Wir versprechen dir, dass du dafür reich belohnt werden wirst.“ Sachte lockert sie Achills festen Griff, und er fügt sich in den Wunsch der Göttin, lässt das Schwert los, ergreift stattdessen das Zepter und tritt nahe an Agamemnon heran.
Dessen Zorn hat sich gelegt, jetzt hat er Angst. Viel mehr Angst vor dem Zepter als vor dem Schwert und das ungute Gefühl, etwas Furchtbares angerichtet zu haben. Aber er ist zu stolz, um Achill beiseitezunehmen, und verrät mit keiner Miene, dass ihm schwarz wird vor Augen, als er ihn sagen hört: „Nimm mir Briseis, ich kann dich nicht hindern. Aber nimm mit ihr diesen Schwur, du und alle, die für dich um Troja kämpfen: Ihr sollt euch nach mir sehnen, wenn du verzweifelt versuchst, die Troer abzuwehren. Deine Männer werden unter Hektors Händen sterben, und du wirst nichts tun können außer bereuen, dass du mich heute entehrt hast. Nützen wird es dir aber nichts.“ Damit wirft er sein Zepter Agamemnon vor die Füße und verlässt die Versammlung.
So beginnt die „Ilias“, das große Epos vom Trojanischen Krieg – für das Abendland der Inbegriff des Krieges schlechthin. Achill und Agamemnon sind zwei der strahlendsten Helden dieses Krieges. Beide gehören zum griechischen Heer, beide haben eine herausragende Stellung: Achill ist der Meister des Krieges, eine Kampfmaschine, in der sich Kraft, Mut und Schnelligkeit mit Leidenschaft, Zorn und Verletzlichkeit zu einer explosiven Mischung verbinden. Ajax mag stärker sein, Odysseus gewitzter, Diomedes ausdauernder. Aber keiner kann wie Achill Gefühle in Energie verwandeln, mit der er seinen Körper zu übermenschlichen Leistungen antreibt. Und da er zu extremen Gefühlszuständen neigt, fürchten ihn seine Gegner als unberechenbaren, außerordentlich gefährlichen Feind.
Sein Kontrahent Agamemnon ist in seiner aufbrausenden Art berechenbarer. Enorm standesbewusst verlangt er nach Respekt |73| und ganz besonders nach materieller Absicherung seiner Macht. Reichtum sichert ihm die Vormachtstellung, die er zu Hause und auch vor Troja einnimmt. Als Befehlshaber des griechischen Heeres steht er über Achill.
Als die beiden aneinander geraten, ist die Situation angespannt. Seit über neun Jahren belagern die Griechen Troja ohne Erfolg. Jetzt kommen zum Elend des Stellungskrieges noch Krankheit und Tod. Agamemnon und Achill fühlen sich beide uneingestanden schuldig: der eine als glückloser Oberbefehlshaber, der aus Standesdünkel und Hochmut die Pest heraufbeschworen hat; der andere als ein Versager, der die hochgesteckten Hoffnungen nicht erfüllt.
Die Nerven liegen blank, und es ist verständlich, dass die Frage nach der Schuld von beiden Männern umgemünzt wird in die Frage nach der Macht. Agamemnon verlangt von seinem besten Kämpfer einen Loyalitätsbeweis. Freiwillig soll Achill ihm das Mädchen Briseis überlassen. Achill deutet diese Probe falsch. Statt zu begreifen, dass Agamemnon Angst davor hat, die eigene Sklavin herzugeben, weil er fürchtet, damit an Einfluss zu verlieren, sieht Achill nur seinen Standpunkt. Er fühlt sich gedemütigt, ausgenutzt, entehrt – und er hat Recht, weil Agamemnon zu weit
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