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Die Amazonen

Titel: Die Amazonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hedwig Appelt
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geht und nicht nur Bestätigung, sondern Unterwerfung fordert. Indem er Achills Geliebte für sich beansprucht, weitet er die Frage nach der Rangordnung im Heer aus zur Frage nach der männlichen Macht schlechthin: Wer bekommt die Frau?
    Die unausgesprochene Antwort heißt: Der, der sie verdient, natürlich. Also der Potentere, Mächtigere, Vermögendere. Dem, der zurückstehen muss, wird seine Männlichkeit abgesprochen. Dafür wird Achills Rache schrecklich sein.
    Dieser Streit zeigt gleich zu Beginn der „Ilias“ ganz deutlich, dass in diesem Ur-Krieg aller Kriege, in diesem Modell-Krieg Macht und Männlichkeit eins sind.
    Und noch weiter reichen die Folgen des anfänglichen Wortgefechtes zwischen Achill und Agamemnon: Der Kampf um Troja, |74| noch unentschieden vor dem Zerwürfnis, wird jetzt unweigerlich die von Achill gewünschte Wendung nehmen. Zeus selbst wird dafür sorgen, weil auch er um den Erhalt seiner Macht willen Schuld auf sich geladen hat und sich der Bitte um Wiedergutmachung nicht entziehen kann.
    Nach der Auseinandersetzung mit Agamemnon geht Achill hinunter an den Strand. Er kniet sich nah ans Ufer, schöpft mit beiden Händen Wasser und vergisst, was er tun wollte. Er starrt in die Schale aus Händen, das Wasser zerrinnt ihm zwischen den Fingern. Da schlägt er die Hände vors Gesicht und weint nach seiner Mutter.
    „Was ist, mein Kind? Was hast du?“ Thetis streichelt seine Füße. „Ein kurzes Leben ist dir nur beschieden. Zu kurz für Trauer und Leid.“ Als Nebel steigt die Meergöttin jetzt auf und nimmt den Weinenden in die Arme. Tränen rinnen Achill über das nebelfeuchte Gesicht, er wischt sie in die tropfenden Haare, schlingt beide Arme um den eigenen Leib und zieht die Mutter näher an sich. Sein Kopf sinkt auf ihre Schulter, er presst die Stirn gegen seine Knie und flüstert in die Höhlung hinein: „Du weißt doch alles, Mutter. Hast gesehen und gehört, wie Agamemnon mich entehrt hat.“ Er drückt die Handflächen gegen die heiße Stirn, aber davon wandert das Hämmern in seinem Kopf nur tiefer, und stöhnend lässt er sie sinken, hebt den Blick zu Thetis, die ihm rasch mit kühlender Hand über das heiße Gesicht streicht, ihm die Lippen befeuchtet, damit er sprechen kann: „Geh hinauf zu Zeus, Mutter“, er schluckt den bitteren Vorgeschmack seiner Worte hinunter. „Frag ihn, ob er bereit ist, den Troern so lange beizustehen, bis Agamemnon einsieht und bereut, dass er mich heute entehrt hat.“
    Jeder, der ihn da sitzen sähe, würde zurückschaudern vor dieser Gestalt, die mit rot unterlaufenen Augen in eine dichte Nebelwand starrt, die mit dem Meer zu einem einzigen Grauen verschwimmt: Achill bittet um den Tod der eigenen Leute! Der Freunde und Vertrauten, mit denen er Seite an Seite gekämpft |75| hat, die mit ihm vor den Zelten saßen, gegessen, ausgeruht und vom gemeinsamen Zuhause gesprochen haben. Er will sie, die völlig unschuldig sind am Unrecht, das ihm geschah, töten lassen. Und er weiß, wie grässlich der Tod im Krieg aussieht, weiß, dass die Gefallenen oft noch lange genug lebendig sind, um unsägliche Schmerzen und die Gewissheit des Todes aushalten zu müssen. Er setzt sich über die Furcht der Sterbenden hinweg, unbestattet zu bleiben, ruhelos für alle Ewigkeit. All das zählt für Achill weniger als die Tatsache, dass er nicht ausreichend geehrt wurde.
    Vielleicht könnte Thetis die Wogen des Zorns noch glätten. Die Wut hat ihr Kind gepackt, aber die Mutter versucht nicht etwa, es beschwichtigend aus dieser Umklammerung zu lösen. Im Gegenteil. Sie bestärkt ihn in seinem Vorhaben, verspricht, Zeus die Bitte vorzutragen, und rät Achill, seinen Zorn zu bewahren, trotzig abzuwarten und nicht mehr in das Kampfgeschehen einzugreifen. Warum unternimmt Thetis nichts, um ihren Sohn von seinem mörderischen Plan abzubringen?
    Sie hat keine Zeit, weil die Lebenszeit von Achill abläuft. Ihm ist der Tod vor Troja vorausgesagt, und er hat sich bewusst für ein kurzes Leben, dafür aber auch für unsterblichen Ruhm entschieden. Die zweite Möglichkeit, die ihm das Schicksal geboten hatte, hat er nie in Betracht gezogen. Ein langes ereignisloses Leben zu Hause in Phthia erschien ihm reizlos.
    Liebend und unglücklich in vorweggenommener Trauer hat Thetis seine Entscheidung immer mitgetragen und die Karriere ihres Sohnes über alles gestellt. Aus der Prophezeiung, dass sein Ruhm ihn überleben würde, zieht sie den Trost über die Unabänderlichkeit seines

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