Die Amazonen
Wasserdichten das helle Wasser des Amazonas das dunkle seines Zuflusses an die Seite. Eine Weile fuhr die San Pedro auf dem zweifarbigen Fluss entlang und näherte sich einer dichter besiedelten Gegend. Die Dorfbewohner zeigten sich feindselig, ließen sich von den Spaniern auch nicht einschüchtern, sondern verspotteten sie und forderten sie zur Weiterfahrt auf: Flussabwärts würden sie bereits erwartet!
Folgt man dem Bericht von Pater Carvajal, wurde die Mannschaft tatsächlich wenige Tage später von Indianern angegriffen, die inzwischen Hilfe herbeigerufen hatten.
Amazonen waren gekommen, groß gewachsen, hellhäutig, nackt bis auf einen schmalen Lendenschurz, das lange, geflochtene Haar aufgesteckt. Auf etliche Kanus verteilt fuhren sie den beiden Seglern entgegen und nahmen sie mit Pfeil und Bogen unter Beschuss, sodass die Schiffe innerhalb kürzester Zeit mit Pfeilen |144| gespickt waren. Jede einzelne Amazone zeigte den Mut und die Kampfkraft von zehn Männern und hatte in dem Getümmel noch die Zeit, diejenigen männlichen Indianer mit Stockschlägen zu traktieren, die sich in Deckung bringen wollten. Orellana und seine Mannschaft baten schließlich auf Knien um Gottes Hilfe, der sie wohl erhört haben muss. Den Spaniern gelang es, den Kanus zu entkommen und vorher noch einen männlichen Indianer gefangen zu nehmen.
Orellana persönlich setzte sich am Abend zu ihm und fragte ihn aus. Er wollte wissen, wer der Herrscher über sein Land war, und der Mann nannte ihm einen Mann namens Couynco, der jedoch seinerseits den Amazonen untertan wäre.
Diese mächtigen Frauen, die große Teile des Landes beherrschten, wohnten sieben Tagesreisen entfernt im Landesinneren. Der Kapitän fragte, ob diese Frauen verheiratet waren, und erhielt zur Antwort: Nein. Ob er wüsste, wie sie lebten? Nun erhielt der Kapitän eine ganz und gar befriedigende Auskunft, denn der Eingeborene gab sich als Bote zu erkennen, der den Amazonen regelmäßig ihren Tribut an Papageien- und Arafedern brachte und deshalb die Orte kannte, wo sie lebten. Er selbst hatte 70 ihrer Dörfer aufgesucht, und vermutlich gab es, der großen Zahl der Amazonen nach zu schließen, noch weit mehr. Jedes war durch ein Tor gesichert, und die Dörfer waren untereinander durch befestigte und streng bewachte Wege verbunden. Die Amazonen wohnten in Häusern aus Stein, hatten keine Männer, führten aber ab und an Kriege gegen die Bewohner der Umgebung und nahmen die Gefangenen dann mit in ihre Dörfer. Sie schickten sie erst wieder nach Hause, wenn sie glaubten, von ihnen schwanger zu sein. Kam ein Sohn zur Welt, dann töteten sie ihn, die Mädchen behielten sie bei sich und bildeten sie zu Kriegerinnen aus. An der Spitze des Amazonenvolkes stand eine Herrscherin namens Conori. Viele Männer, fügte der Befragte hinzu, würden von weit her kommen und über 1 400 Meilen den Fluss hinabfahren, nur um diese Frauen einmal zu sehen. Sie alle würden sich als junge Männer |145| aufmachen und als alte zurückkehren. Mit diesen sibyllinischen Worten beschloss er seinen Bericht, den Pater Carvajal gewissenhaft notiert hatte.
Da es so gut wie ausgeschlossen ist, dass die indigene Bevölkerung den Namen „Amazonen“ gebrauchte, war es wohl der gebildete Pater, der diese Kriegerinnen als Erster so nannte. Sein gründliches Studium hatte Carvajal schon in der alten Welt mit den Amazonen bekannt gemacht. Und nach der selbst erlebten Erfahrung des Kampfes und der erzählten Beschreibung ihrer Lebensweise übertrug er sein Wissen von den antiken Amazonen auf diese „wilden“ Frauen. So ist es wahrscheinlich sein Verdienst, dass der größte Fluss der Erde heute noch den Namen der Amazonen trägt.
Als kleine Pikanterie sei angemerkt, dass die wahre, spirituelle Aufgabe der Dominikaner eigentlich darin bestand, den Namen des Herrn in alle Welt zu tragen. Dass Pater Carvajal einen ganz anderen Namen verbreitet hat, lag sicher nicht in seiner Absicht, vielmehr spricht dieses Phänomen für das Talent der Amazonen, überall, wo sie auftauchten, Herrschaftspläne zu durchkreuzen.
Für Orellana und seine Mannschaft blieb es bei dieser einzigen Begegnung mit den Amazonen. Drei Monate später erreichten die San Pedro und die Victoria die Atlantikküste. Damit hatte der spanische Konquistador als erster Europäer den Amazonas von Westen nach Osten befahren.
Auch Gonzalo Pizarro hatte inzwischen fast Übermenschliches vollbracht und das, was von der stolzen Expedition übrig
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