Die Ameisen
Gastgeber angenommen und dienten ihnen, als handelte es sich um ihre Eltern. Woher hätten sie auch wissen sollen, daß sie durch ihr genetisches Erbe eigentlich Raubameisen und keine Sklaven waren? Sie wissen nichts von der Welt außer dem, was ihnen die blutroten Ameisen zu erzählen bereit waren.
Habt ihr keine Angst, daß sie aufmüpfig werden?
Sicher, ein paarmal hätten sie schon aufgemuckt. I m allgemeinen schlossen die Blutroten derlei Vorfälle aus, indem sie die Störenfriede eliminierten. Solange die Schwarzen nicht wissen, daß sie aus einem Nest geraubt worden sind, daß sie zu einer anderen Art gehören, mangelt es ihnen an der rechten Motivation …
Die Nacht und die Kälte senken sich über den Haselnußstrauch. Man weist den beiden Kundschafterinnen eine Ecke an, in der sie ihren nächtlichen Miniwinterschlaf halten können. Chli-pu-kan wächst nach und nach. Zuerst hat man die Verbotene Stadt angelegt. Sie wurde nicht in einem Baumstumpf errichtet, sondern in einem merkwürdigen Ding, das dort vergraben war, einer verrosteten Konservenbüchse, die einst drei Kilo Kompott enthielt, ein Relikt aus einem nahe gelegenen Waisenhaus.
In diesem neuen Palast legt Chli-pu-ni wie eine Besessene, während man sie mit Zucker, Fett und Vitaminen vollstopft.
Die ersten Töchter haben unmittelbar unter der Verbotenen Stadt eine Krippe errichtet, die mit sich zersetzendem Humus beheizt wird. Das ist am praktischsten, solange die Kuppel aus Zweigen und das Solarium, die das Ende der Bauarbeiten markieren werden, nicht fertiggestellt sind.
Chli-pu-ni will, daß ihre Stadt alle bekannten technologischen Errungenschaften ausnutzt: Pilzkulturen, Flaschenkürbisse, Herden von Blattläusen, Efeustützen, Säle zur Gärung von Honigtau, Säle zur Produktion von Getreidemehl, Säle für Söldnerinnen und Spioninnen, Säle für organische Chemie usw.
Und in allen Ecken herrscht ein reges Treiben. Die junge Königin hat es verstanden, ihren Enthusiasmus und ihre Hoffnungen zu übertragen. Sie will nicht, daß Chli-pu-kan eine föderierte Stadt wie alle anderen wird. Sie strebt danach, sie zu einem avantgardistischen Zentrum zu machen, zur Speerspitze der Ameisenzivilisation. Sie sprüht vor Ideen.
So hat man zum Beispiel in der Umgebung des 12. UG einen unterirdischen Fluß entdeckt. Ihrer Meinung nach ist das Wasser ein Element, das nur unzureichend erforscht worden ist. Man muß ein Mittel finden, darüber hinwegzugehen.
Als erstes wird eine Einheit beauftragt, die Insekten zu studieren, die im Süßwasser leben: Schwimmkäfer, Hüpferlinge, Wasserflöhe … Sind sie eßbar? Kann man eines Tages welche in unbewachten Lachen auf ziehen?
Ihre erste berühmte Rede hält sie über das Thema der Pflanzenläuse: Wir gehen auf eine Epoche kriegerischer Wirren zu. Die Waffen werden immer ausgeklügelter. Wir werden da nicht immer mithalten können. Eines Tages wird die Jagd draußen vielleicht Glückssache sein. Wir müssen das Schlimmste ins Auge fassen. Unsere Stadt muß sich so weit wie möglich in die Tiefe ausdehnen. Und wir müssen die Aufzucht der Pflanzenläuse intensiver betreiben als jede andere Form der Lieferung von lebenswichtigem Zucker. Dieses Vieh muß in Ställen in den untersten Stockwerken untergebracht werden.
Dreißig ihrer Töchter ziehen aus und kehren mit zwei Pflanzenläusen zurück, die kurz davor sind, ihren Nachwuchs zur Welt zu bringen. Nach einigen Stunden sind sie im Besitz von gut hundert kleinen Pflanzenläusen, denen sie die Flügel stutzen. Sie bringen diesen Grundstock des künftigen Viehbestands in das 23. UG, wo er vor den Marienkäfern in Sicherheit ist, und versorgt ihn reichlich mit frischen Blättern und saftigen Stengeln.
Chli-pu-ni sendet Kundschafterinnen in alle Himmelsrichtungen. Einige bringen Lamellenpilzsporen mit, die sogleich in den Pilzkulturen eingepflanzt werden. Die entdeckungs-freudige Königin beschließt sogar, den Traum ihrer Mutter zu verwirklichen: Sie läßt an der Ostgrenze eine Reihe von Samenkörnern fleischfressender Pflanzen aussäen. Auf diese Weise hofft sie einen eventuellen Angriff der Termiten und ihrer Geheimwaffe aufzuhalten.
Denn das Rätsel der Geheimwaffe, die Ermordung des 327.
Prinzen und die unter dem Granitfelsen versteckten Nahrungsvorräte hat sie keineswegs vergessen.
Sie schickt eine Gruppe von Abgesandten nach Bel-o-kan.
Offiziell haben sie den Auftrag, der Königin die Gründung der fünfundsechzigsten Stadt und ihren Anschluß
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