Die Amerikanerin
Aber inzwischen müsstest du dich doch an seine Art gewöhnt haben und wissen, dass er es nicht böse meint.«
Marie war sich dessen nicht so sicher, doch sie schwieg. So plötzlich, wie ihre Streitlust gekommen war, war sie auch wieder verraucht.
Mit einer liebevollen Geste hob Franco ihr Kinn. »Was ist wirklich los, mia cara ? Freust du dich nicht auf das neue Jahr? Auf unser Kind?«
Tränen stiegen in Maries Augen. Wie sollte sie ihm sagen, dass sie sich so nach ihrer Familie sehnte, dass es weh tat? Also schluchzte sie: »Natürlich freue ich mich auf das Kind! Und auf das Jahr 1911. Aber ich habe mir den Jahreswechsel ganz anders vorgestellt. Irgendwie italienischer, lebhafter, fröhlicher, so wie damals das Fest in der Mulberry Street in New York!«
»Marie, nicht weinen, bitte.« Franco drückte sie zärtlich an seine Brust.
»Ich kann nicht anders«, schniefte sie. »Ich fühle mich so allein.« Ihr fehlten Pandora und Sherlain und die anderen Frauen auf dem Monte. Die Gespräche während des Sonnenbadens. Das manchmal kindische Herumalbern. Marie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal aus vollem Herzen gelacht hatte.
Franco streichelte ihr über den Kopf. »Du hast doch mich«, sagte er rau. Und als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Ich glaube, in der letzten Nacht des Jahres fühlt sich jeder ein bisschen allein.«
Unter Tränen schaute Marie auf. Etwas Unbekanntes schwang in seiner Stimme mit. Hilflosigkeit? Einsamkeit?Jedenfalls war es nichts, was ihre Verletzlichkeit in diesem Moment gemindert hätte.
»Halt mich einfach nur fest«, sagte sie.
Nachdem Marie sich von ihrer weinerlichen Stimmung erholt hatte, fand sie doch noch Gefallen an dem Feuerwerk. Sie gab sogar zu, dass man von der obersten Terrasse des Palazzos aus tatsächlich den besten Blick über den Hafen hatte. Jeden Feuerwirbel, jedes Funkenschlagen bestaunte sie mit Aahs und Oohs. Ihre Begeisterung war ansteckend: Franco kam es so vor, als würde auch er das Spektakel zum ersten Mal sehen, und sein Vater meinte, die Pyrotechniker hätten sich dieses Jahr besonders angestrengt. Als seine Mutter auch noch das Glas erhob und auf den zukünftigen De-Lucca-Nachkommen trank, war Francos Herz leicht und froh. Alles war in Ordnung.
Doch kaum waren die letzten Feuerwerkskörper verraucht, flüsterte Marie ihm zu, dass sie müde sei, und so zogen sie sich zurück. Kurz nach ein Uhr lagen sie im Bett.
Während Marie im Traum kleine Seufzer ausstieß, war Franco von einer inneren Unruhe erfüllt, die ihn nicht an Schlaf denken ließ.
»Ihr glaubt alle, ich hätte keine Augen im Kopf« – bei Maries Bemerkung war ihm fast das Herz stehen geblieben! Einen Moment lang hatte er tatsächlich geglaubt, sie wisse Bescheid über ihre »speziellen« Weintransporte. Gott sei Dank war dem nicht so! Aber ihre Bemerkung hatte ihm wieder einmal vor Augen geführt, wie schnell das Kartenhaus, das er um Marie und sich gebaut hatte, zusammenfallen konnte. Und dann?
Nie durfte Marie erfahren, womit die langen Zahlenreihen und Frachtpapiere zu tun hatten, die kein anderer wegen ihrer Brisanz in die Hand nehmen durfte!
»Alles wird gut, mia cara . Das neue Jahr wird uns gehören«, hatte er seiner Frau um Mitternacht ins Ohr geflüstert. Wie vertrauensvoll sie ihn dabei angeschaut hatte! Es lag anihm, dafür zu sorgen, dass ihr Vertrauen nicht enttäuscht wurde. Und das bedeutete: kein Menschenschmuggel mehr im neuen Jahr.
Marie war zu viel allein, sie fühlte sich einsam, das war ihm sehr wohl bewusst. Aber wie sollte er sich um seine Ehefrau kümmern, wenn er sich ständig Geschichten von bedauernswerten Schicksalen anhören musste? Von Bauernsöhnen und verarmten Handwerkern, die im gelobten Land auf das große Glück hofften – und in einer Hinterhofküche landeten, versklavt von derselben Armut wie in Italien auch. Und von zurückbleibenden Eltern, die nur noch trockenes Brot und Reis zu essen hatten, weil die Schiffspassage der Söhne jede Lira verschlang.
Er wusste auch, dass Marie enttäuscht darüber war, dass er seine Pläne zur Verjüngung der Weinberge noch nicht in Angriff genommen hatte.
Gleich in der kommenden Woche wollte er zu seinem Vater gehen. Vielleicht sollte er ihn um einen Termin bitten, um so von Anfang an die Ernsthaftigkeit der Situation zu demonstrieren. Ja, das war gut. Die Starre in seinem Körper löste sich ein wenig.
Er war Winzer und Weinhändler, oder? Also wollte er auf seiner nächsten Reise
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