Die Amerikanerin
Lauter unhöfliche Rüpel. Kein Wunder, dass Mutter damals geflüchtet war!
Als sie den Türgriff schon in der Hand hatte, hörte sie den Alten röcheln: »Ruths Tochter … Das wäre … eine Überraschung. Belügst du mich auch nicht? Komm zu mir, Mädchen!«
Mit zusammengekniffenen Mundwinkeln drehte Wanda sich nochmals zu ihm um. Sei geduldig, zwang sie sich zur Nachsicht, er ist ein alter, dem Tod geweihter Mann!
»Ruth!« Ein nach innen gekehrtes Lächeln überzog Wilhelms Gesicht.
Wanda verzichtete darauf, ihn erneut darauf hinzuweisen, dass sie nicht Ruth war. Zögernd folgte sie seinem Wink und trat einen Schritt näher ans Bett.
Auf den zweiten Blick sah der Alte nicht ganz so sterbenskrank aus. Einen Moment lang glaubte sie sogar, in dem nach vorn gereckten Kinn und den spitzen Wangenknochen, über denen sich die Haut spannte, die störrischen Züge des früheren Despoten zu erkennen, von dem alle erzählt hatten. Zu ihrem Erstaunen machte sich etwas wie Erleichterung in ihr breit.
»Ruths Tochter, wer hätte das gedacht! Deine Mutter …« Er richtete sich etwas auf. »Soll ich dir etwas über deine Mutter verraten?«
Wanda nickte – und ärgerte sich sofort darüber.
Die Augen des Alten leuchteten auf.
»Aber sag’s nicht weiter!«
Er begann meckernd zu lachen, was einen weiteren Hustenanfall auslöste.
Wanda wartete ab, bis er sich wieder gefangen hatte.
»Ruth …, die hatte damals mehr Mumm in den Knochen als … meine drei Söhne zusammen.« Betrübt schüttelte er den Kopf. »Lang ist’s her. Und es ist nichts Besseres nachgekommen.«Wilhelm Heimer schloss die Augen.
Als sie die Klinke erneut ergriff, kämpfte Wanda gegen einen Kloß in ihrem Hals an. Sie ahnte, dass sie gerade das größte Kompliment gehört hatte, dessen der Alte fähig war.
»Gut, dass du gekommen bist.« Das Flüstern vom Bett war schwach, aber selbst im Hinausgehen noch zu vernehmen.
12
Das Essen war dem Anlass entsprechend vorzüglich: getrüffelte Pastete, gegrillte Rotbarben, deren Rosmarinduft den halben Palazzo erfüllte, außerdem mit Steinpilzen gefüllte Täubchen, dazu Safranrisotto. Auch die Tafel des Speisesaals war festlich gedeckt: Es gab edle Leinentischwäsche, bestickt mit dem Wappen der Familie, darauf teuerstes Porzellan und auf Hochglanz poliertes Tafelsilber. In der Mitte stand ein Strauß aus weißen Lilien und gelben Rosen. Zwei identische Sträuße zierten je ein Ende der Fensterbank, doch trotz aller blumigen Üppigkeit wirkte das Arrangement steril. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass die Blumen keinerlei Duft verströmten. Vielleicht waren es gar Seidenblumen? Verstohlen befingerte Marie eine der Rosenblüten und stellte fest, dass sie echt waren. Wahrscheinlich hatte Patrizia ihnen verboten zu riechen, damit ihr eigenes penetrantes Parfüm in keinerlei Konkurrenz stand, schoss es Marie durch den Kopf.
Missmutig wartete sie darauf, dass wenigstens ein Hauch von Festtagsstimmung aufkam. Wie lange musste sie noch in diesem Raum mit den hohen Wänden, die jedes gesprochene Wort hallen ließen, sitzen und in das säuerliche Gesicht ihrer Schwiegermutter schauen, während Franco und sein Vater sich über einen Winzer und dessen Söhne unterhielten?Marie versuchte, Francos Blick auf sich zu ziehen, doch er war so in sein Gespräch vertieft, dass er es nicht bemerkte.
Als der nächste Gang serviert wurde, war Marie eigentlich längst satt. Trotzdem schaufelte sie ihren Teller leer, weil sie wusste, dass dies Patrizias Missfallen erregen würde. Tatsächlich hob die Contessa pikiert die Brauen, während sie selbst winzige Bissen Täubchenbrust aufspießte. Im nächsten Moment legte sie ihr Besteck weg.
»Es ist bald elf Uhr. Ich werde prüfen, ob Carla den Sekt gekühlt hat.« Geziert tupfte sich Patrizia einen unsichtbaren Tropfen Wein von den Lippen und rückte dann lautlos ihren Stuhl nach hinten, um aufzustehen.
Kaum hatte sie den Speisesaal verlassen, öffnete Marie verstohlen den Knopf ihres Rockbundes. Das mehrgängige Menü drückte gegen ihren Magen, und sie ärgerte sich, überhaupt so viel gegessen zu haben.
Franco zuliebe verzichtete sie seit ihrer Schwangerschaft darauf, Hosen zu tragen. »So ein enger Hosenbund ist für das bambino nicht gut«, hatte er argumentiert. Marie war sich jedoch ziemlich sicher, dass seine Besorgnis eher mit Patrizias konservativer Kleiderordnung zu tun hatte. Die Contessa hatte schon entsetzt reagiert, als sie mitbekam,
Weitere Kostenlose Bücher