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Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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Papier. Wo, das würde man sehen. Vielleicht würde sich der Monte Verità als Heimat auf Zeit anbieten. Und dann? Gleichgültig … nur weg von hier, weg, weg.
    Marie seufzte und versteckte das Büchlein wie stets hinter der Rückwand ihres Bettes. Dann sah sie auf die Kugeluhr, die an einer goldenen Kette um ihren Hals baumelte. Vier Uhr nachmittags.
    Sie ging in die Werkstatt. Noch am Morgen hatte die Glut der Farben auf ihrem Bolg sie für ein paar gnädige Stunden aus ihrem Gefängnis geholt. Wenn ihr Kopf voll war mit bunten Bildern, ging es ihr besser. An den Wänden lehnten die Glasmosaiken, die in den letzten Wochen entstanden waren – bizarre, fast abstrakte Darstellungen, deren Bedeutung Marie manchmal selbst nicht hätte erklären können, weil sie wie aus eigenem Willen aus ihr herausgeflossen waren. Nun ließ sie ihre Finger durch die Schalen mit den bunten Glassteinen gleiten, ohne etwas dabei zu fühlen.
    Die Stunden am Nachmittag, wenn die Kraft des Morgens sie verlassen, die Müdigkeit des Abends sie aber noch nicht eingeholt hatte, waren die schlimmsten.
    Um nicht ganz untätig dazusitzen, begann sie, Glasstücke in verschiedenen Grüntönen blätterförmig zusammenzulegen. Im Laufe der Wochen hatte sich etwas wie Normalität eingestellt, eine tägliche Routine, die dem Wahnsinn Struktur gab: aufstehen so gegen neun Uhr morgens, wenn Carla – immer nur sie, nie eins der anderen Dienstmädchen – mit dem Frühstück kam. Zwei Scheiben Weißbrot, dazu Butter und Honig und ein Stück Obst. Dann die Benutzung des Toilettengeschirrs, das Carla zusammen mit dem Frühstückstablett gegen zehn Uhr abholte. Im Palazzo gab es fünf Toiletten mit fließendem Wasser – eine Annehmlichkeit, die Marie sehr bald nach ihrer Ankunft zu schätzen gelernt hatte. Doch nun ließ Patrizia sie nicht einmal für den Gang zur Toilette aus ihrem Zimmer. »Es ist nicht gut, wenn du so viel läufst. Du musst dich schonen für das bambino «, rechtfertigte sie sich. Heuchlerische Gefängniswärterin!
    Die restliche Zeit des Vormittags verbrachte Marie in ihrer Werkstatt, bis um ein Uhr die Tür erneut aufging. Manchmal brachte ihr Patrizia das Mittagessen und blieb ein paar Minuten. Weil Marie so einsam war, begann sie sich paradoxerweise trotz ihres Hasses auf diese Zeit zu freuen – schließlich war Patrizia ihre einzige Verbindung nach draußen. Meistens kam jedoch Carla, die sie immer anstarrte, als hätte sie Angst vor ihr. Marie hatte keine Ahnung, was Patrizia dem Mädchen erzählt hatte – wahrscheinlich, dass sie, Marie, an einer ansteckenden Krankheit litt. Oder geisteskrank war. Eher Letzteres, denn Carla reagierte auf keine von Maries eindringlichen Bitten, ihr zu helfen, mit mehr als einem irritierten Augenzucken.
    Im Anschluss an das Essen kam der Mittagsschlaf. Wie gern hätte Marie dazu das Korbsofa in der Orangerie aufgesucht! Etwas anderes riechen, die Palmenwedel um sich haben, die sich im Windhauch der Belüftungsschlitze wiegten … Doch sie hatte noch so betteln können, Patrizia hatte sich nicht darauf eingelassen, die Tür zur Orangerie für Marie zu öffnen – wahrscheinlich hatte sie Angst, Marie würde eine der Scheiben zertrümmern und auf und davon gehen! Versucht hätte sie es, ohne Zweifel. Die Scheiben im Glashaus waren weniger dick als die in ihrem Schlafzimmer oder in der Werkstatt und auch nicht vergittert. Und dann wäre sie gerannt, gerannt, gerannt. Nur weg aus ihrem gläsernen Gefängnis.
    In den ersten Tagen hatte sie nichts anderes getan, als darüber nachzugrübeln, wie sie entkommen konnte. Einmal hatte sie Carla samt Tablett zur Seite gestoßen und war zur Haustür gelaufen, so schnell sie konnte – nur um festzustellen, dass die ebenfalls verschlossen war. Heulend war sie zusammengebrochen. Welche Demütigung, als Patrizia und der Conte sie wie eine Schwerverbrecherin wieder abgeführt hatten! Dabei hatte Patrizia geweint und so getan, als ob Marie sie zutiefst verletzt hätte.
    Aufhören zu leben, einfach nichts mehr zu essen wäre eine weitere Möglichkeit gewesen – doch da war das Kind in ihrem Bauch.
    Hilfe von außen holen? Vergeblich. Wann immer einer der Gärtner vor ihrem Fenster aufgetaucht war, hatte Marie wie eine Verrückte ans Glas gehämmert und klarzumachen versucht, dass sie gegen ihren Willen festgehalten wurde. Keiner hatte reagiert. Was mochte Patrizia ihnen erzählt haben?
    Wütend wischte Marie mit der Hand über den Bolg. Aberhunderte von

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