Die Amerikanerin
Glasteilchen spritzten davon, perlten wie bunte Regentropfen auf den Boden. Fast höhnisch schimmerten sie dort, in einer arglosen Schönheit, die Marie vor Schmerz aufschreien ließ. Seit sie denken konnte, war Glas der Werkstoff, mit dem sie hatte arbeiten wollen. Glas offenbarte jede Schwäche, jeden Fehler der menschlichen Hand – gerade diese Tatsache hatte sie so sehr gereizt. Der empfindliche Werkstoff hatte sie mehr als einmal zu einem Wutausbruch verführt, dann wieder zu Geduld und Demut angehalten und stets erneut ihren Ehrgeiz angestachelt. Nie hätte Marie sich eine Situation vorstellen können, in der Glas ihr zum Feind werden konnte.
Pünktlich um fünf Uhr drehte sich der Schlüssel im Schloss. Erstaunt registrierte Marie, die auf dem Bett saß, dass es Patrizia war, die das Tablett mit der Mokkatasse und dem Stück Butterkuchen brachte. Sie hätte sie beileibe nicht erwartet: Erst zur Mittagszeit hatte sie ihre Schwiegermutter angefleht, einen Arzt kommen zu lassen, der sie wegen ihrer Rückenschmerzen untersuchen sollte.
»Ich schwöre, dass ich nichts zu ihm sagen werde!«, hatte sie beteuert und es in diesem Moment auch so gemeint. Wo hätte sie denn auch jetzt noch hingehen sollen mit ihrem dicken Bauch? Wäre sie nicht schwanger gewesen, hätte siejeden Tag auf eine neue Fluchtmöglichkeit gelauert, doch sie musste an ihr ungeborenes Kind denken. So hatte sie gesagt: »Die Schmerzen machen mir Angst! Wenn etwas nicht in Ordnung ist …« Doch wie immer hatte auch diese Diskussion damit geendet, dass Patrizia steif und mit zusammengepressten Lippen aus dem Zimmer gegangen war. Normalerweise bestrafte sie Marie für ein solches »Verhalten« damit, dass sie einige Tage lang gar nicht bei ihr vorbeischaute.
Hatte sie womöglich herausgefunden, dass heute Maries Geburtstag war?
Ohne Marie anzuschauen, stellte Patrizia das Tablett auf dem kleinen Tisch vor dem Bett ab. Ihre Hände zitterten, und ihre Augen waren rot gerändert, als hätte sie geweint.
»Kannst du Carla bitten, mir Wasser für ein Bad warm zu machen?« Marie wies in Richtung der Badewanne, die Patrizia ihr am ersten Tag ins Zimmer hatte bringen lassen. »Vielleicht tut die Wärme meinem Rücken gut«, fügte sie noch hinzu.
Patrizia nickte wortlos. Sie war schon halb zur Tür hinaus, als sie sich nochmals umdrehte und stehen blieb. Umständlich nahm sie das Tablett von einer Hand in die andere. Sie räusperte sich fast unhörbar.
»Was ist? Hat Franco sich endlich gemeldet?« Der Hoffnungsschimmer war da, bevor Marie sich gegen ihn wehren konnte. Seit Wochen warteten sie auf seinen Anruf …
Patrizia schüttelte den Kopf. »In New York hat es ein Problem gegeben …« Ihre steinerne Miene zerbrach, ein Wimmern erklang. Hastig presste sie eine Hand auf den Mund.
Marie hatte das Gefühl, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube erhalten. Ohne Rücksicht auf ihre Leibesfülle sprang sie auf. »Und? So rede schon!«
»Einer der Zollbeamten, die Bescheid wussten, hat seinenMund nicht gehalten.« Patrizias Unterlippe zitterte. »Sie haben Franco verhaftet.«
22
Von einem Tag auf den anderen begann der Schnee zu schmelzen. Zuerst tauten die Straßen auf, dann rutschte Schnee von den Hausdächern, dann begannen die Bäume an den umliegenden Berghängen nach und nach ihre Äste zu entblößen. Ende März sah die Landschaft so scheckig aus wie ein Hund im Fellwechsel, und Wanda musste sich erst daran gewöhnen, nicht mehr nur Weißes zu sehen. Überall strömten große und kleine Bäche bergab, tiefer liegende Wiesen verwandelten sich in Tümpel, auf den Gassen begann sich das Wasser in Pfützen zu sammeln, die – wollte man keine nassen Füße bekommen – das Vorwärtskommen so beschwerlich machten wie zuvor das Stiefeln durch den Schnee. Doch die Menschen schienen die neuen Erschwernisse nicht nur klaglos hinzunehmen, sondern sie geradezu zu begrüßen, bedeuteten sie doch, dass sich die Landschaft endlich aus ihrem Schneekokon entpuppte und der Frühling nahte.
Obwohl Wandas Kopf randvoll war mit ihren Ideen und Plänen, entging ihr die Unruhe nicht, die die Menschen um sie herum befallen hatte. Plötzlich hatte jeder etwas vor: der Nachbar, der sich auf den Weg nach Neuhaus machte, um von seinem Schwager zwei Ferkel zu holen, oder Anna und Johannes, die Pläne für einen Besuch in Coburg schmiedeten – ohne Wanda zu fragen, ob sie mitkommen wollte. Oder Graziella, die italienische Haushaltshilfe, die von früh
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