Die Amerikanerin
würde nur noch ein Spazierstock und ihr ein Sonnenschirm fehlen, dann kämen sie daher wie ein altes Ehepaar, sagte Wanda lachend, als sie in einem der Fenster ihres Spiegelbildes gewahr wurde. Erst als die Straßenlaternen angesteckt wurden und Richard und Wanda die Füße wie Feuer brannten, hatten sie genug.
Statt im Speisesaal ihrer Pension landeten sie schließlich in einem Schwabinger Etablissement, in dem zwei Zigeuner feurige Weisen spielten. Die anderen Gäste wirkten auf Richard, als kämen sie von einem fremden Stern. Verstohlenzeigte er auf einen Mann, der im schwarzen Frack mit einem feuerroten Schal an ihrem Nebentisch saß, dann auf einen, der seinen Schädel rasiert und einen Rauschebart bis zur Brust hatte, dann auf zwei junge Frauen, die sich vor den Augen aller auf den Mund küssten. Aus lauter Verlegenheit wusste er bald nicht mehr, wohin er schauen sollte.
Wanda dagegen fühlte sich sofort wohl. Die Atmosphäre erinnerte sie an viele Abende, die sie zusammen mit Marie und Pandora in Greenwich Village verbracht hatte.
»Das sind Künstler«, raunte sie Richard zu und riet ihm, sich am besten gleich an solche etwas exzentrischen Persönlichkeiten zu gewöhnen, denn die würden ihm in Venedig bestimmt ständig über den Weg laufen. Als sie sah, dass ein Gast am Nebentisch einen Teller Spaghetti serviert bekam, schlug sie vor, als Einstimmung auf Italien dasselbe zu bestellen.
»Frauen, die sich küssen, Männer, die ihr Haupthaar als Bart tragen, und Spaghetti in der Stadt der Weißwürste – warum nicht?«, war Richards trockener Kommentar, und Wanda küsste ihn dafür spontan auf den Mund.
Der Abend wurde lang und die Stimmung unter den Gästen immer ausgelassener. Es war schwer, bei der lauten Musik ein Gespräch zu beginnen, und so begnügten sich Wanda und Richard damit, sich verliebte Blicke zuzuwerfen und sich im Takt der Melodien zu wiegen.
Erst als sich die Musiker selbst bei einem Krug Wein niederließen, wurde es ruhiger – von einigen hitzigen Diskussionen, in denen es um Politik ging, einmal abgesehen.
Wanda und Richard konnten ein Gespräch beginnen, und wie immer kamen sie vom Hundertsten ins Tausendste. Es gab so unendlich viel, was sie sich zu sagen hatten!
Irgendwann erzählte sie ihm von dem Abend, an dem sie durch Marie erfahren hatte, dass Steven gar nicht ihr leiblicher Vater war.
»Meine ganze Jugend über habe ich mich irgendwie … nicht richtig zugehörig gefühlt. Nicht Fisch und nicht Fleisch, verstehst du? Das hat sich erst in den letzten Wochen geändert. Heute weiß ich, dass sowohl Steven als auch mein leiblicher Vater zu meinem Leben gehören. Es fühlt sich so an, als ob ich ganz allmählich in meine Haut hineinwachsen würde.« Sie schaute Richard an. Sein Blick war aufmerksam und offen.
Wanda fuhr fort: »Ein Teil von mir wird wohl amerikanisch bleiben, und trotzdem werde ich immer mehr zur Tochter eines Glasbläsers! So etwas Verrücktes, nicht wahr?« Plötzlich waren die Zweifel, die Unsicherheiten von damals wieder so nah, dass Wanda ein Schauer durchlief. Wie oft schon hatten Unternehmungen in ihrem Leben hoffnungsvoll begonnen, nur um kurze Zeit später kläglich zu scheitern! Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Wein.
Richard schaute sie nachdenklich an. »Bei mir war alles viel einfacher. Ich wusste von klein auf, dass ich der Sohn eines Glasbläsers bin. Mein Vater war einer der besten. Meine Eltern haben mir von Anfang an klargemacht, dass sie von mir erwarten, dass ich in seine Fußstapfen trete. Oder besser: dass ich es einmal zu mehr bringen werde. Schade, dass sie nun nicht erleben können, wie ihr Wunsch wahr wird. Vater würde es zwar bestimmt nicht gefallen, dass ich nach Murano schiele, aber sonst …« Er langte über den Tisch nach Wandas Hand. »Sie wären so stolz gewesen, dass ich die Tochter vom Heimer heirate!«
Und Wanda, die seine Bemerkung im ersten Moment eigentümlich fand, verstand kurz darauf, dass sie in Richards Augen vor allem das war: die Tochter eines Glasbläsers. Den Zwiespalt ihrer Jugend konnte oder wollte er nicht nachempfinden. Für ihn war sie nicht the little rich girl aus der Fifth Avenue, das Mädchen mit den vielen Flausen im Kopf,die man ihm austreiben musste. Richard sah in ihr eine Frau, die anpacken konnte und mit der er auch seine Zukunft anpacken wollte. Eine warme Welle des Glücks durchlief sie.
Ihre Augen funkelten vor Liebe, als sie ihr Glas erhob und ihm mit dem letzten Schluck Wein
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