Die Amerikanerin
in einem Hotel in Bahnhofsnähe übernachten wollten. Der zweite Tag ihrer Reise würde sie über die italienische Grenze bis nach Bozen führen, wo sich am Tag darauf ihre Wege trennen sollten.
Während Wanda ihr Billett am Lauschaer Bahnhof gekauft hatte, war Richards in Weimar ausgestellt worden – Gotthilf Täuber hatte es ihm zusammen mit Unterlagen über eine Pension in Venedig und einer Eintrittskarte für die Kunstausstellung zugeschickt. Ein Billett aus Weimar? Mit hochgezogenen buschigen Augenbrauen prüfte der Herr Schaffner das Reisedokument eingehend auf seine Richtigkeit, ohne sich um die Schlange von murrenden Reisenden zu kümmern, die sich hinter Richard und Wanda bildete. Als sie schließlich einsteigen durften, hatten sie Glück: Das Zugabteil war nur zur Hälfte besetzt, so dass die Bank ihnen gegenüber frei blieb. Wanda nutzte den Platz, um einen Teil ihres Gepäcks, das eigentlich in den Gepäckwagen gehörte, dort abzustellen. Ein ganzer Koffer mit Sachen für Maries Kind war dabei, außerdem Mitbringsel aller Art für Marie selbst. Auch Richard hatte seinen Koffer mit ins Abteil genommen. Neben Wandas elegantem Gepäck wirkte er geradezu mitleiderregend. Dies schien auch Richard aufzufallen, denn er drapierte seine Jacke in einer Art über den Koffer, als wolle er ihn verstecken.
Es war ein strahlend sonniger Tag, und durch die Luken der Zugfenster wehte verheißungsvolle Frühlingsluft in das
Abteil. Draußen schien die ganze Welt aufzublühen. Wohinman schaute, strahlte das Weiß der Apfel- und Kirschbaumblüten.
Anfangs hatte Wanda verstohlen Richards Hand gehalten und sich in dem Bewusstsein gesonnt, dass mit dieser Reise ein Traum wahr wurde, den sie vor ein paar Wochen noch nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Doch mit jeder Kurve, die der Zug hinter sich brachte, wurde die Realität aufregender als jeder Traum. Alle paar Minuten bot sich ein neues Panorama, und Wanda konnte nicht länger still sitzen. Aufgeregt gestikulierte sie nach draußen, zeigte mal auf dunkle Wälder, dann wieder auf weite Obstbaumwiesen, dazwischen auf kleine Dörfer mit ziegelgedeckten Häusern – Schiefer hatte Wanda nicht mehr gesehen, seit sie Thüringen verlassen hatten. Dafür waren sie gerade eben an mehreren Seen vorbeigekommen, deren Wasserspiegel in dunklem Saphirblau glänzte.
Es dauerte eine Weile, bis Wanda bemerkte, dass Richard ihr nicht in ihren glückseligen Rausch gefolgt war, sondern eher teilnahmslos vor sich hin starrte. Als sie ihn fragte, was los sei, antwortete er:
»Hast du gemerkt, dass der Schaffner nur mein Billett geprüft hat? Das von den anderen Reisenden wollte er gar nicht sehen.«
Zunächst verstand Wanda überhaupt nicht, wovon Richard sprach. Die kleine Verzögerung beim Einsteigen hatte sie längst vergessen.
»Aber das ist typisch«, fuhr Richard fort. »Mit uns Wäldlern kann man’s ja machen! Wenn das so weitergeht, dann gute Nacht!«
Zumindest den letzten Satz konnte Wanda bald unterstreichen: Mit jedem Kilometer, den sie sich weiter von Lauscha entfernten, wurde Richard brummiger. Wanda wusste, dass Richards schlechte Laune nichts mit ihr zu tun hatte, sondern der Ausdruck seiner Unsicherheit war. Im Stillenamüsierte sie sich sogar ein wenig darüber, dass ihr selbstbewusster Richard, kaum dass er Lauscha verlassen hatte, sich seiner Sache gar nicht mehr so sicher war … Doch sie beschloss, ihn in Ruhe zu lassen, und vertiefte sich in einen Reiseführer über Italien, den sie sich vor kurzem bei Maries altem Freund Alois Sawatzky in dessen Buchhandlung gekauft hatte.
Es dauerte bis zum Nachmittag, ehe sich Richard etwas entspannte und von sich aus ein Gespräch begann. Und als ihr Zug gegen Abend in München eintraf, war er fast schon wieder der Alte.
Die Pension neben dem Münchner Bahnhof war schlicht, aber sauber. Nachdem Wanda und Richard ihr Gepäck in ihre Zimmer gebracht hatten, hätte Richard sich damit zufriedengegeben, im Speisesaal der Pension das Tagesgericht – Linsensuppe mit Würstel – zu sich zu nehmen. Wanda verdrehte innerlich die Augen. Noch immer schien die Sonne golden, und die Straßen waren voller Menschen, denen man die gute Laune ansah. Deshalb überredete sie Richard, mit ihr über die berühmte Maximilianstraße, von der sie schon in New York gehört hatte, zu flanieren. Die Geschäfte waren zwar längst geschlossen, nichtsdestotrotz gingen sie von Schaufenster zu Schaufenster. Wandas Hand lag auf Richards Arm. Ihm
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