Die Amerikanerin
Wanda an ihre Mutter, die eine solche Haltung immer dann einnahm, wenn sie mit Leuten gesellschaftlich verkehren musste, für die sie nichts übrighatte. Eine Maske, hinter der man alles verbergen konnte.
Was hat die Contessa zu verbergen?, fragte sich Wanda, während sie sich mit ihrem Taschentuch nicht vorhandene Schweißtropfen abtupfte. Sie versuchte krampfhaft, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen und sich von dieser Frau mit den kalten Augen nicht noch mehr einschüchtern zu lassen.
War etwas mit dem Kind nicht in Ordnung? Die Vorstellung war so ungeheuerlich, dass Wanda gar nicht weiterdenken konnte. Oder ging es Marie schlechter, als die Contessa es ihr gegenüber zugab? Wenn ja, wäre es dann nicht besonders dringend, dass Wanda sie besuchte?
In diesem Moment wünschte sie sich nichts mehr, als Johanna neben sich zu haben. Oder ihre Mutter.
Aber sie war allein, und Marie brauchte sie. Und zwar dringend.
Endlich stand sie auf und ging zur Tür, bis sie Patrizia Aug in Auge gegenüberstand. Wie streng sie dreinschaute!Wanda konnte sich sehr gut vorstellen, dass die meisten Bittsteller bei Patrizias Anblick den Kopf einzogen und den Rücken rund machten, um unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Aber nicht sie, nicht Wanda Miles! Wer den Spießrutenlauf bei den Sonneberger Verlegern überstanden hatte, ließ sich nicht von einer italienischen Gräfin einschüchtern! Nicht die geringste Unsicherheit lag in ihrer Stimme, als sie sagte: »Ich möchte jetzt auf der Stelle zu Marie geführt werden. Wenn nicht, dann …«
Sie hoffte, dass die Andeutung einer Drohung ausreichte. Denn dummerweise hätte sie nicht gewusst, womit sie sie erfüllen sollte.
*
Das Summen der Flamme wird stärker. Gleich wird sie die richtige Hitze haben, damit eine Kugel geblasen werden kann. Eine große Kugel. Eine schillernde Kugel. Wie Seifenblasen irisierend. Wie die Seifenblasen, die Papa früher mit ihr …
»Tante Marie, bist du wach?«
Marie stöhnte. Nicht rütteln! Die Seifenblasen gehen sonst kaputt.
»Tante Marie, hörst du mich? Ich … warte auch, bis du ausgeschlafen hast.«
Puff! Puff! Puff!, platzt eine nach der andern weg.
»Wanda?« Maries Arme zitterten, als sie sich aufstützen wollte. Sie blinzelte in den abgedunkelten Raum. »Bist du es wirklich?«
»Ja, ich bin’s«, antwortete Wanda.
Die Stimme so ungewohnt sanft … wie ein Engel … nicht wie Wanda, so lebhaft und aufbrausend …
Krampfhaft versuchte Marie, sich darüber klarzuwerden, ob Wanda tatsächlich vor ihrem Bett stand oder nur in ihrem Kopf existierte wie die vielen anderen auch. Doch da! DieHand auf ihrer Hand, so weich und warm. Es musste tatsächlich Wanda sein.
»Du … bist gekommen. Den weiten Weg. Woher weißt du …« Auf einmal wusste Marie nicht, was sie zuerst fragen sollte. Sie begann zu weinen. Wie kommst du hierher? Geht es dir gut? Und wie geht es Johanna? So viele Dinge in ihrem Kopf. Ein Knäuel, das sie nicht in wichtige und unwichtige Fäden entwirren konnte.
»Ich muss dir etwas sagen …«, begann sie leise. »Ich –«
»Psst, sei still. Wir reden später. Wir haben ganz viel Zeit …«, murmelte Wanda. Sie schlang ihre Arme um Marie und wiegte sie wie ein Kind hin und her.
Marie wollte diese zärtliche Umarmung nie mehr verlassen. Obwohl sie so glücklich war, musste sie noch mehr weinen. Bald war Wandas Schulter nass von Tränen.
»Sehen Sie, schon regt sie sich auf!«, zischte Patrizia von der Tür her.
»Das sind doch nur Freudentränen!«, antwortete Wanda. Dann lockerte sie ihre Umarmung und drückte Marie mit sanfter Bestimmtheit zurück auf ihr Kissen. »Du musst dich ausruhen, sagt deine Schwiegermutter. Ich darf dich nicht überanstrengen, sonst wirft sie mich hinaus!« Sie zwinkerte verschwörerisch.
Sofort kam Patrizia einen Schritt näher. Sie hatte zwar nicht verstanden, was Wanda auf Deutsch zu Marie gesagt hatte, aber dass es um sie ging, hatte sie sehr wohl mitbekommen.
Wanda hier – ein Geschenk des Himmels. Lieber Gott, danke! Ich muss die Zeit nutzen, der Schwindel kann jederzeit wiederkommen. Die vielen Stimmen im Kopf, die … Marie blinzelte ihre Tränen weg.
»Ich … mir geht es gut. Ich bin nur noch ein wenig schwach.« Sie probierte ein Lächeln. Es tat gut, den Kopf so frei zu haben. Die Hoffnung, dass alles gut werden würde,erfüllte sie. »Hast du meine Tochter gesehen? Sylvie? Ist sie nicht wunderschön?«
»Und so kräftig! Die Amme sagt, sie sei so groß
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