Die Amerikanerin
sämtliche Versprechungen, die sie Johanna und ihren Eltern gegeben hatte, gebrochen hatte.
Richard … ihr Mann … Was er wohl in diesem Augenblick tat?
Plötzlich war sie unendlich müde. Bald … bald würde sie Marie alles von Frau zu Frau erzählen können. Dies war Wandas letzter Gedanke, bevor sie, ans Fenster gelehnt, in einen Schlaf tiefster Erschöpfung fiel.
Entgegen ihrer Befürchtung konnte Wanda sich in Genua auf Anhieb vom Bahnhof zum Palazzo der Familie de Lucca durchfragen. Als sie einem der Droschkenfahrer vor dem Bahnhof die Adresse nannte und einsteigen wollte, schüttelte der unwillig den Kopf. Aus seinen Äußerungen und Handzeichen entnahm sie, dass Maries neues Zuhause gerade einmal zwei Straßen weiter lag und sich eine so kurzeFahrt für ihn nicht lohnte. Wanda bestand wegen ihres Gepäcks dennoch darauf, dass er sie einsteigen ließ. Mürrisch setzte der Fahrer das Gefährt in Gang, und kurz darauf hielten sie vor einem riesigen viereckigen Kasten, an dessen Portal ein diskretes Messingschild mit der Aufschrift »Palazzo Delizioso« hing.
Das also war ein Bauwerk des berühmten italienischen Architekten Palladio! Nach Maries seitenlangen Schwärmereien über den Künstler, der vor allem in Venezien Dutzende von Villen erbaut hatte, hatte Wanda ein etwas schmuckvolleres Exterieur erwartet. Tatsächlich wirkte der Palazzo zwar recht grandios, aber gleichzeitig außerordentlich streng. Doch schließlich war sie nicht hier, um italienische Kunststile zu studieren! Wanda zog kräftig an dem Klingelzug zur Rechten des Portals.
» Scusi , Signorina, aber Contessa Marie … ist heute leider nicht … zu sprechen!« Carla, das Dienstmädchen, deutete einen Knicks an, ohne jedoch einen Schritt zur Seite zu treten.
Nicht zu sprechen? Was sollte denn das bedeuten? Wanda runzelte die Stirn. Hatte das Mädchen verstanden, dass sie eigens aus Deutschland angereist war, um Marie zu besuchen? Ihr Blick wanderte über die riesige Front des Palazzos, als erwarte sie, hinter einem der unzähligen Fenster Maries Kopf auftauchen zu sehen.
Wanda versuchte es erneut in sehr langsamem und einfachem Deutsch: »Bitte … sagen … Sie … meiner Tante, dass … Wanda hier ist. Wanda! Sagen Sie ihr das, ja?« Vielleicht wollte Marie in ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft keine fremden Besucher empfangen, aber das galt doch nicht für ihre Nichte!
Verlegen zwirbelte Carla an ihrer gestärkten Schürze.
»Das geht … nicht …«, antwortete sie in gebrochenem Deutsch.
Mit einem Plumps ließ Wanda ihr Gepäck, das sie bis jetzt in den Händen gehalten hatte, auf den Boden fallen.
»Was soll das heißen? Ist Marie vielleicht außer Haus? Wenn ja, dann muss sie doch irgendwann wiederkommen?«, fragte sie ungehalten. War das die italienische Art von Gastfreundlichkeit, einen weit Gereisten einfach vor der Tür stehen zu lassen? Sie machte einen Schritt zur Seite, um der Sonne zu entrinnen, die auf ihren Rücken brannte. Etwas Kühlung und ein Glas Limonade nach der langen Reise wären nicht unangemessen gewesen! Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass womöglich das Telegramm, mit dem sie ihren Besuch angekündigt hatte, verloren gegangen war. Wusste Marie etwa gar nicht, dass sie auf dem Weg zu ihr war?
Carla schaute über ihre Schulter, als hoffe sie in ihrem Kampf, Wanda abzuwehren, auf Verstärkung. Als diese ausblieb, machte sie einen kleinen Schritt auf Wanda zu.
»Die junge Contessa ist … sehr schwach nach der Geburt ihrer Tochter gestern«, flüsterte sie, während sie erneut einen Blick ins Innere des Palazzos warf. Sie machte keine Anstalten, das Portal für Wanda freizugeben.
»Marie hat eine Tochter? Das Kind ist schon da?«, fragte Wanda ungläubig. Das Dienstmädchen nickte vage.
Gestern … Während sie im Zug gesessen hatte, hatte Marie ein kleines Mädchen zur Welt gebracht! Es dauerte einen Moment, bis Wanda diese Neuigkeit verdaut hatte. Dann aber lief ihr Herz über vor lauter Glück. Marie hatte eine Tochter! Am liebsten hätte sie die Hausangestellte zur Seite gestoßen und wäre ins Haus gestürmt. Schnell einen Blick auf Marie werfen! Und auf das Kind.
Stattdessen atmete sie einmal tief durch, bevor sie sagte: »Natürlich braucht meine Tante heute ihre Ruhe, das ist doch selbstverständlich!« Sie lächelte das Dienstmädchen an, das daraufhin sehr erleichtert schien.
»Wo ist denn eigentlich Franco?« Erst jetzt fiel es Wanda ein, nach ihm zu fragen.
Weitere Kostenlose Bücher