Die Amerikanerin
Warum war sie nicht gleich darauf gekommen! Es ziemte sich doch zumindest, dem Kindsvater zur Geburt seiner Tochter zu gratulieren. Außerdem würde Franco bestimmt darauf bestehen, dass sie im Palazzo übernachtete, statt sich ein Hotel zu suchen, während sie darauf wartete, dass sich Marie von den Strapazen der Geburt erholte. Sie würde einen Blick auf die Kleine werfen, Marie ein kurzes Hallo sagen und dann …
»Conte Franco … nicht da. Und seine Mutter, Contessa Patrizia, auch nicht. Sie morgen wiederkommen!«, erwiderte Carla steif. Sie schlug die Tür zu, bevor Wanda reagieren konnte.
Wanda starrte fassungslos auf das eichene Portal mit den aufwendigen Schnitzereien. Es war ja schön und gut, dass die Hausangestellten des Palazzos die junge Mutter behüteten, aber was zu weit ging, ging zu weit! Wanda hatte nur eine Erklärung für diesen Vorfall: Das Hauspersonal war nicht von ihrer bevorstehenden Ankunft unterrichtet worden. Was wiederum zwei Schlüsse zuließ: Entweder hatte man dies im Trubel um die Geburt versäumt, oder ihr Telegramm war tatsächlich verloren gegangen.
Konsterniert schulterte sie ihr Gepäck und machte auf dem Absatz kehrt. Der Marmorkies knirschte unter ihren Füßen, die von der langen Zugfahrt geschwollen waren und weh taten. Am Ende der Hofeinfahrt drehte Wanda sich noch einmal um. So groß und prächtig der Palazzo auch war – seine Bewohner schienen ein seltsames Benehmen zu haben!
Dass Franco unterwegs war, um in irgendeiner Bar die Geburt seiner Tochter mit Freunden zu begießen, mochte ja angehen, aber dass seine Mutter ebenfalls das Haus verlassen hatte … Wenn Marie von der Geburt derart mitgenommen war, konnte man doch erwarten, dass dieSchwiegermutter in ihrer Nähe blieb, oder? Wenn sie das Johanna erzählte! In Wandas Empörung mischte sich ein dumpfes, ungutes Gefühl, doch sie war zu aufgeregt, als dass sie es hätte benennen können.
An einer Kreuzung angekommen, blieb sie stehen, um sich zu orientieren. Für die meisterlichen Bauwerke und Schönheiten der Stadt hatte sie keinen Blick übrig. Sie beschloss, in Richtung Hafen zu gehen, wo sie die meisten Hotels der Stadt vermutete.
Mit jedem Schritt wurden ihre Gepäckstücke schwerer, und sie ärgerte sich, dass sie nicht daran gedacht hatte, den Koffer mit den Geschenken für Marie im Palazzo abzugeben, statt ihn mit sich herumzuschleppen.
Morgen würde sie für den Weg vom Hotel zum Palazzo eine Droschke mieten, nahm sie sich vor.
29
Die Sonne scheint tief unter den Bäumen hindurch, die lange Schatten werfen, wie Finger, die greifen wollen, die …
Lasst mich los!
Marie duckt sich unter den Bäumen. Weg von dem Dunkel! Doch die Schatten sind schneller als sie und huschen immer genau dorthin, wo ihr Fuß beim nächsten Schritt aufsetzt. Bin schon da, kein Entrinnen …
Ein Spiel, das Johannas Zwillinge gespielt hatten. Bilder tauchen vor ihrem inneren Auge auf … Kreidefelder auf Pflastersteinen, schwingende Röcke, dazu kindliche Lieder … Eins, zwei – hüpf!, der Schatten frisst die Worte auf, bevor sie sich an mehr erinnern kann.
»Marie, zieh dich endlich aus! Ein Sonnenbad will mit nackter Haut genossen werden.« Sherlains Stimme, tadelnd wie immer, wenn Marie sich nicht haargenau nach den Regelnauf dem Monte richtet. Hände beginnen an ihren Kleidern zu zerren, Stoff klatscht ihr ins Gesicht, sie schnappt nach Luft und bekommt keine. Alles eng. So eng, dass ihr angst wird, aber …
»Nicht ausziehen, nein …! Der Mann mit dem Wallebart! Er will mich holen …« Der Gedanke verschwimmt wie Tinte auf einem nassen Blatt. Was für ein Mann?
» Piano, Marie! Niemand will dich ausziehen.« Eine Hand drückte sie zurück ins Bett. »Lass mich das Tuch auf deine Stirn legen. Wir müssen das Fieber senken.«
Schweißnass schreckte Marie auf. »Fieber …«
Einen Moment lang wusste sie nicht, wer die Frau war, die ein weißes Tuch in eine Porzellanschüssel tauchte und auswrang. Dann kehrte die Erinnerung langsam zurück: die Geburt, die Höllenqualen, schließlich von einem Moment auf den nächsten gnadenvolle Leere, kein Gefühl mehr, keine Schmerzen …
Der Mann mit dem Wallebart … da ist er wieder, er versteckt sich in einem Wald aus Grün und Blau und … Er winkt ihr zu, sie kann ihn deutlich sehen …
Ihr fiel etwas ein. Etwas so Wichtiges, dass sie sich aufzurappeln versuchte, um besser denken zu können. Mit aller Macht drückte sie den Schwindel weg, der sie
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