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Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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gnädiges Fräulein. Die Papiere, bitte schön!« Ein uniformierter Beamter stand vor Wanda und streckte die Hand aus. Als sein Blick auf den Korb mit dem Kind fiel, runzelte er die Stirn.
    »Guten Tag.« Wanda reichte ihm mit einem Lächeln die Papiere. Nicht zittern, nonchalant gucken, aber nicht herablassend, atmen, aber nicht so laut, betete sie sich im Stillen vor, als wäre sie in einem Benimmkurs für feine Damen. Zwei Mal blätterte der Mann Wandas amerikanischen Pass durch, und dabei schien er sich besonders für die Einreisestempel zu interessieren.
    Die Ader an Wandas linker Halsseite pochte immer heftiger. Er konnte nichts finden – mit diesem Gedankenversuchte sie die aufsteigende Panik zu bekämpfen. Wie abfällig er sie ansah! Sie räusperte sich. Für ihn war sie ein in Schande gefallenes Mädchen, das – woher auch immer – genug Geld hatte, um mit seinem unehelichen Säugling Europa zu bereisen. Vielleicht vermutete er auch, dass ihre Familie sie verstoßen hatte. Dass sie auf der Flucht sei – und damit würde der Mann der Wahrheit ziemlich nahe kommen. Fast hätte der Gedanke Wanda erheitert.
    Endlich reichte der Beamte ihr die Unterlagen zurück. »Wissen Sie eigentlich, dass die Herren Kollegen aus Deutschland ihre Stempel auf die Seite drei gemacht haben?«
    »Die Seite drei?«
    »Na hier, sehen Sie das denn nicht?« Mit einer abrupten Handbewegung riss der Mann ihr den Pass nochmals aus der Hand und schlug ihn auf. »Das ist doch die Seite für die amerikanischen Ausreisestempel!« Voller Ungeduld fuchtelte er mit dem Papier vor Wandas Gesicht herum. »Wenn das alle so machten, dann würden wir uns in den Pässen bald nicht mehr auskennen!«
    »Ja … jetzt sehe ich es auch. Wirklich eine Schlamperei …«
    Tausend Dank, lieber Gott.

    Als der Grenzbeamte fort war, setzte das Zittern ein. Erst war es nur Wandas rechte Hand, die zu zittern begann. Dann ihre linke. Als sie an sich hinabschaute, sah sie, dass auch ihre Knie sich unruhig auf und ab bewegten. Ihr Blick ging durchs Abteil. Ob jemand etwas merkte? Doch niemand schenkte ihr einen Blick, so wie sich auch niemand neben sie gesetzt hatte. Als ob sie unter einer ansteckenden Krankheit litte!
    Plötzlich war alles zu viel für Wanda. Die letzten Tage an Maries Krankenbett, kein Schlaf, die Beerdigung auf dem staubigen, felsigen Friedhof, der Kampf um Sylvie …Unkontrollierte Tränen flossen ihr übers Gesicht, und sie schluchzte laut auf. Ihre Nase schwoll zu, und sie bekam kaum noch Luft.
    Marie war tot. Eingeschlossen, wo kein Lichtstrahl hinkam, kein Silberglanz und kein gläsernes Glitzern.
    Es war so unfair! Marie hatte keiner Menschenseele je etwas angetan. Ihr Leben lang hatte sie nichts als Arbeit gekannt und es auch nicht anders gewollt. Und dann, als sie ein einziges Mal ausbrechen wollte aus diesem Leben, hatte es das Schicksal nicht zugelassen.
    Warum?
    Sosehr Wanda sich bemühte, sie konnte keinen Sinn in Maries Tod erkennen. Sie presste ihre Strickjacke vors Gesicht.
    Wie konnte jemand mit einem so großen Hunger auf das Leben einfach sterben? Wie konnte das sein?
    Alte Leute starben – oder auch nicht, so wie Wilhelm Heimer, der sich mit jeder Faser seines ausgemergelten Körpers ans Leben klammerte. Warum hatte Maries Kraft nicht gereicht?
    Fieber … verdammtes Fieber. Warum war es nicht gesunken? Jeden Tag ein bisschen mehr, und Marie wäre wieder gesund geworden. Aber einfach die Augen zu schließen und zu sagen: »Nicht das Fieber geht, ich gehe«? Es war nicht zu verstehen.
    Mit zitternden Fingern putzte sich Wanda die Nase, als sie aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung wahrnahm. Sylvie ruderte mit ihren kleinen Ärmchen, als wolle sie ihr winken. Ihre blauen Babyaugen unter den langen Wimpern schauten orientierungslos von einer Seite zur anderen.
    »Na, komm her, du kleines Ding!« Vorsichtig hob Wanda das Kind aus dem Korb. Zum Glück hatte das Zittern aufgehört, und sie konnte ihre Arme fest um den warmen kleinen Leib schlingen.
    Kein Traum, sondern Wahrheit. Sie legte Sylvies Kopf an ihre Schulter. Das Baby, das ohne Mutter aufwachsen würde.
    »Deine Mama wird uns allen so schrecklich fehlen …«

32
    Am frühen Abend war Wanda in Bozen angekommen. Die Sonne hatte sich im Laufe des Tages hinter einem Berg Wolken versteckt, und die Schwüle war immer unerträglicher geworden. Die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern – ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich etwas

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