Die Amerikanerin
sie fest, dass es sich dabei um eine erstaunlich junge Frau handelte. Sie trug ihr Anliegen vor, und schon wenige Minuten später öffnete sie einem älteren Zimmermädchen die Tür. Mit dem beruhigenden Gefühl, Sylvie in guten Händen zu wissen, statt in der Obhut eines überforderten Pagen, machte sich Wanda auf die Suche nach dem nächstgelegenen Postamt. Während sie sich einen Weg durch die belebten Straßen bahnte, rechnete sie kurz nach: In New York war es jetzt neun Uhr morgens. Mit etwas Glück würde ihre Mutter noch bei ihrer zweiten Tasse Kaffee sitzen.
Es war nicht besonders schwierig, eine Verbindung nach Amerika zu bekommen. Der Beamte bestand lediglich auf einer Bezahlung für fünf Minuten im Voraus. Sollte dieVerbindung nicht zustande kommen, würde sie ihr Geld selbstverständlich zurückerhalten, erklärte er ihr.
Fünf Minuten … Was um alles in der Welt sollte sie ihrer Mutter in dieser kurzen Zeit sagen?, fragte sich Wanda, während der Beamte mit Kabeln hantierte, Knöpfe drückte und immer wieder per Telefonhörer die Leitung prüfte. Wo sollte sie anfangen zu erzählen?
»Gnädiges Fräulein, Ihr Amt.«
Zitternd übernahm Wanda den Hörer. Knacken. Rauschen, dann hörte sie: »Hello, it’s Mrs. Steven Miles here.« Die kühle, altvertraute Stimme!
»Mutter!« Wanda blinzelte heftig. Jetzt nicht weinen. Fünf Minuten waren so kurz …
»Wanda?«, kam es ungläubig zurück. »Bist du schon aus Italien zurück? Ich dachte, heute ist doch erst …«
»Mutter, es ist etwas ganz Furchtbares geschehen!«, begann Wanda atemlos. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Und bevor Ruth etwas erwidern konnte, sagte sie: »Marie ist tot. Sie ist nach der Geburt ihrer Tochter gestorben. Ich habe ihre Hand gehalten. Sie war nicht allein, verstehst du? Vor zwei Tagen ist sie beerdigt worden, es war ganz schrecklich.« Am anderen Ende der Leitung hörte sie ihre Mutter tief Luft holen. Dann ertönte ein leises Jammern. Wanda wollte sich nicht vorstellen, welchen Schlag sie Ruth mit einem Satz verpasst hatte.
»Sylvie, ihre Tochter, ist wohlauf. Maries letzter Wille war, dass ich sie mit nach Lauscha nehme. Und das tue ich jetzt auch. Ich bin in München …«
Auf einmal wusste sie nicht, was sie noch sagen sollte.
»Mutter?«, flüsterte sie, als Ruths Schweigen andauerte. »Bist du noch da?«
»Ja. Ich … entschuldige bitte, ich …« Ein Geräusch, als ob Ruth die Nase putzte, folgte, dann sagte sie: »Ich kann es nicht fassen. Es ist … hat … sie sehr leiden müssen?«Wanda biss sich auf die Lippen. Die Wahrheit – oder …
»Nein. Sie hatte keine Schmerzen«, antwortete sie. »Es war das Fieber, weißt du?«
»Das Fieber … Weiß Johanna schon …?«
Wanda schüttelte den Kopf. Dann fiel ihr ein, dass ihre Mutter sie ja nicht sehen konnte. »Nein, wie hätte ich ihr Bescheid sagen sollen? Das wird ein ziemlicher Schock werden, wenn ich morgen mit dem Babykorb ankomme …«
»Habe ich das richtig verstanden? Du hast Maries Tochter bei dir? Du allein mit einem Säugling eine so weite Reise … Wie … wie kommt es, dass Franco eingewilligt hat, dass du seine Tochter mitnimmst?«
»Franco! Den habe ich gar nicht gesehen, aber das ist eine lange Geschichte. Mutter, mach dir um mich keine Sorgen, ich schaffe das schon. Wenn ich wieder in Lauscha bin, rufe ich noch mal an. Und schreiben werde ich auch!« Ein Gefühl von Liebe und inniger Zuneigung durchströmte Wanda. Was hätte sie darum gegeben, ihrer Mutter den Schmerz erleichtern zu können!
Endlich fand auch Ruth ihre Stimme wieder.
»Ob du es glaubst oder nicht, ich hatte schon die ganzen letzten Wochen so ein … komisches Gefühl, wenn ich an Marie dachte. Als Johanna mir sagte, dass sie sich so lange nicht gemeldet hat … Meine Marie … Trotzdem … nach der Geburt …, es fällt mir schwer zu glauben, dass sie …«, schluchzte sie. »Ich bin froh, dass sie am Ende nicht allein war. Du an ihrer Seite, das war bestimmt ein Trost«, flüsterte Ruth.
»Ach Mutter, in Genua sind Dinge geschehen, die … ich kann dir jetzt nicht davon erzählen! Aber ich habe alles so gut geregelt, wie es ging, und ich –«
Wanda holte Luft. Keine Zeit, sich zu verzetteln.
»Aber was ich dir jetzt sagen will – ich habe Marie versprochen, mich um ihre Tochter zu kümmern. Richard undich werden das gemeinsam tun. Sylvie braucht mich. Sie ist ein so süßes kleines Ding! Marie sagte, sie sieht eurer Mutter ähnlich … Mutter,
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